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Anonym, angehörige Schwester

«Mein Ende des Krieges»

Psychische Erkrankungen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Generationen ihrer Familie. Dass die Erklärung in der Genetik liegt, bezweifelt sie. Vielmehr ist die Autorin dieses Textes überzeugt, dass ihre Familie das Erbe eines Traumas in sich trägt. Um die Persönlichkeit ihrer Familie zu schützen, möchte sie anonym bleiben.
Maske

Ich bin Enkelin, Nichte, Tochter und Schwester von Menschen mit psychischen Krisen. Die Erkrankungen ziehen sich durch die Generationen – wie oft habe ich gehört, das sei wohl was Genetisches. Meine Erklärung ist eine andere. Ich glaube, dass meine Familie das Erbe eines Traumas trägt. Wir sind ein Kollateralschaden des zweiten Weltkrieges. Die Gesetze des Krieges gelten in meiner Familie bis heute.

Mein Bruder hat den Kontakt zu mir abgebrochen. Den Kontakt zu meiner Mutter habe ich abgebrochen. Ich habe den festen Vorsatz, dass meine Kinder vom Familientrauma verschont bleiben. Der Krieg muss einmal vorbei sein.

Vom Grossvater …
Mein Grossvater war gerade 16, als er als deutscher Soldat in den Krieg ging. Er war noch ein Kind. Gehirngewaschen in der Hitlerjugend, zog er mit Begeisterung in den Krieg und stellte sich vor, nach seiner Rückkehr als Held und Verteidiger seines Vaterlandes gefeiert zu werden. Wie wir wissen, kam es anders. Er wurde mehrmals in diesem Krieg schwer verletzt, im Lazarett zusammengeflickt und wieder an die Front geschickt. Was er gesehen und erlebt hat und was das mit ihm gemacht hat, kann ich nur erahnen. Meine Grossmutter erzählte, dass er noch als alter Mann manchmal nachts schreiend erwachte, weil er geträumt hatte, wieder auf dem Schlachtfeld zu sein.

Sein Trauma blieb nach dem Krieg unbehandelt, unbewältigt und er trug es in die Familie, die er gründete. Er schlug seine Töchter während ihrer Kindheit und Jugend oft und brutal. Meiner Mutter schlug er so hart auf die Ohren, dass sie einen Hörschaden davontrug. Sie galt in der Schule als dumm, weil sie nicht richtig hörte. Die Vorstellung, was diese Erlebnisse, die Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein und der Vertrauensverlust mit ihr und ihrer Schwester machten, ist für mich nur schwer zu ertragen.

… über Tante und Mutter …
Meine Tante erhielt mit Mitte dreissig die Diagnose Schizophrenie. Meine Mutter hat keine Diagnose und würde sich auch nie in professionelle Hände begeben. Ich würde sie als emotional instabil beschreiben. Doch das hilflose, schutzbedürftige Mädchen, das sie einmal war, ist in der Person, die sie ist, seit ich sie kenne, nicht sichtbar. Auch meine Mutter trug ihr Trauma in die Familie, die sie gründete – in unsere Familie. Sie hatte zwar die klare Haltung, ihre Kinder niemals zu schlagen und die setzte sie auch um. Doch die stärkste Waffe ist das Wort und die Gewalt, die sie als Kind durch die Schläge ihres Vaters erfahren hatte, gab meine Mutter in Form psychischer Gewalt an meinen Bruder und mich weiter. Vor allem mein Bruder stand dabei im Fokus. Unterstützung erfuhr sie dabei von ihrem Lebenspartner. Mein Bruder wurde von den beiden während seiner Kindheit und Jugend drangsaliert, erniedrigt und gedemütigt. Was ihm wichtig war, wurde verlacht. Wenn er nur seine Meinung vertrat oder sogar aufbegehrte, wurde er so lange niedergemacht oder niedergeschrien, bis er einknickte. Sie nahmen ihm seine Würde. Ich bin seine jüngere Schwester. Ich schaute zu und lernte, wie man es nicht macht. Ich behielt meine Meinung für mich, ich rebellierte nie. So lange bis ich selbst Kinder bekam, behielt ich diese Verhaltensweise meiner Mutter gegenüber bei. Das war mein Glück, denn so wurde ich als Kind nicht so hart getroffen wie mein Bruder. Die Schuldgefühle, die ich meinem Bruder gegenüber deshalb habe, sind riesig. Ich habe mich aus Angst nicht für ihn eingesetzt, ich konnte ihn nicht schützen.

… zum Bruder
Mein Bruder hat die Diagnose paranoide und schizoide Persönlichkeitsstörung. Er lehnt jede Behandlung oder Unterstützung ab. Er hat keine Familie, keine Freunde und nur virtuelle Kontakte. Lange war ich seine einzige noch verbliebene Vertraute. Zu allen anderen Familienmitgliedern hatte er bereits den Kontakt abgebrochen, weil insbesondere meine Mutter und ihr Lebenspartner ihre Verhaltensweisen ihm gegenüber im Erwachsenenalter und erst recht nach seiner Diagnose fortführten. Mein Bruder hat zu niemandem Vertrauen, wittert überall Feindseligkeit. Wem soll man denn auch vertrauen, wenn man von der eigenen Mutter so behandelt wird? Was früher ein normaler, nachvollziehbarer Abwehrmechanismus war, ist bei ihm schon lange krankhaft. Für mich als seine Schwester ist dies sehr schmerzhaft. Ich hätte ihn so gern mit in meinem Boot, würde ihm gerne das Vertrauen, das er verloren hat, zurückgeben, ihn Teil meiner Familie sein lassen. Ihn als grossen Bruder an meiner Seite haben. Doch der Junge, der er einmal war, ist heute nicht mehr erkennbar. Seine Verhaltensweisen sind oft schwer zu ertragen. Mein Bruder kann sehr aggressiv werden und hegt Gewaltphantasien – schon lange gegen unsere Mutter und ihren Lebenspartner – und seit einiger Zeit auch gegen mich. Er hat mir in den letzten Jahren mit psychischer Gewalt schwer zugesetzt. Immer wieder musste ich ihm Grenzen setzen. Doch wer ihm Grenzen setzt, ist sein Feind. Wer nicht für ihn ist, ist gegen ihn. Grund genug für ihn, auch zu mir den Kontakt abzubrechen. Dies ist für mich sehr schmerzvoll, aber auch erlösend.

Und ich?
Zu meiner Mutter habe ich den Kontakt abgebrochen, nachdem ich jahrelang verzweifelt versucht habe, zu retten was zu retten ist, doch hilflos dabei zusehen musste, wie stattdessen alles immer nur noch schlimmer wurde. Denn auch meine Mutter akzeptiert keine Grenzen. Der Krieg zwischen uns brach aus, als mein Sohn in das Alter kam, in dem Kinder ihre Meinung sagen und diese auch gegen die Meinung anderer vertreten. Meine Mutter verhielt sich ihm gegenüber daraufhin so abwertend, wie ich es aus meiner eigenen Kindheit kannte. Zum ersten Mal in meinem Leben und seitdem immer wieder nahm ich meinen Sohn und auch mich selbst in Schutz und wendete mich damit gegen meine Mutter. Der Preis war hoch – ihr Verhalten mir gegenüber wurde aggressiv, verletzend, manipulativ. Für mich waren dies Jahre des Erwachens und des Bewusstwerdens, der Verzweiflung und des Schmerzes. In dieser Zeit holte mich meine ganze Kindheit ein und mir wurde immer mehr deutlich, dass das, was ich mein ganzes Leben für normal gehalten hatte, es nie gewesen war.

Ich habe viel erlitten und verloren. Nun bin ich im Prozess, all das aufzuarbeiten. Sehr spät im Leben habe ich den Fokus auf mich selbst gerichtet, um nachzuforschen, wie ich als Angehörige all das erlebt habe und was das mit mir und aus mir gemacht hat. Ich lasse mich dabei psychologisch begleiten, was ich als tröstend und heilsam empfinde. Ich erkenne neben dem Leid auch die Leistung, die ich erbracht habe und meine Strategien, die mich durch all die Jahre getragen haben. Ich erhole mich langsam von meinen Verletzungen und gewinne durch den Abstand, der nun zwischen mir, meiner Mutter und meinem Bruder liegt, wieder Kraft und Freude am Leben. Ich lerne nach und nach, anzuerkennen und zu akzeptieren, was ich nicht ändern kann. Dass es Zeit ist, loszulassen und vorwärtszuschauen.

Für meine Kinder. Für meinen Mann. Für mich.

Sie sind nicht allein

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