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Bruno Facci, angehöriger Bruder

«Es braucht mehr Empathie – weniger Pharmakotherapie»

Bruno Facci kennt die unterschiedlichsten Facetten der Psychiatrie: als Angehöriger, als ehemaliger Psychiatriepfleger, als Co-Präsident von Stand by You, ehemals VASK Schweiz. Seine Meinung über ein gut funktionierendes System beruht auf seinen jahrzehntelangen Erfahrungen.
Maske

Du hast einen Zwillingsbruder, der psychisch erkrankt ist. Woran leidet er und wann wurde klar, dass etwas nicht stimmte?

Mein eineiiger Zwillingsbruder leidet unter einer bipolaren Störung. Erste Anzeichen gab es 1994, als er 38 Jahre alt war. Er war unruhig, angespannt und wirkte gestresst. Dies verunsicherte mich zwar, aber ich tat es als eine vorübergehende Krise ab, die einer anspruchsvollen Gesamtsituation mit Beruf und drei schulpflichtigen Kindern geschuldet war. Selber war ich als Pflegedienstleiter in einer psychiatrischen Klinik und Vater von vier Kindern auch stark eingespannt. Ich schaute nicht allzu genau hin, womöglich gar weg und wollte oder konnte die Veränderungen nicht wahrhaben.

Und irgendwann musstest du hinsehen. Wie war das für dich, dass eine dir so nah stehende Person diesen Leidensweg durchmachen muss?

1994 wurde Guido zum ersten Mal hospitalisiert. Trotz der Vorzeichen kam das für mich aus heiterem Himmel. Sein verstörendes und mir unbekanntes Verhalten auf dem Notfall des Kantonsspitals St. Gallen schockierte mich. Bis heute geht mir diese Episode nicht mehr aus dem Kopf. Ich kannte dieses Verhalten von Patienten, die ich einst gepflegt und betreut hatte, aber meinen eigenen Bruder so zu sehen, war fast unerträglich. Er war in einer Welt gefangen, zu der ich keinen Zugang hatte. Die zweite Episode folgte im selben Jahr, mein Bruder war ausser Rand und Band. Zwei Jahre später gab es wieder einen Rückfall. Meinen Bruder in solcher Not zu sehen und trotz meinem beruflichen Hintergrund nicht helfen zu können, war eine schmerzliche Erfahrung. Auf kleine Fortschritte folgten Rückschläge. Letztere nagten an der Hoffnung auf Besserung. Es zermürbte mich, meine Hoffnung zerbröselte. Trauer überfiel mich. Die Trauer darüber, dass die unbeschwerten Zeiten vorbei waren, dass nichts mehr so würde, wie es einmal war.

Was gab dir Kraft?

Meine Verbundenheit, meine Liebe und die Hoffnung, dass es wieder besser werden konnte. Aber auch meine Familie, mein Zuhause und mein Beruf mit dem damit verbundenen Erfolg gaben mir Kraft.

Als ehemaliger Pflegedienstleiter und Angehöriger kennst du viele Facetten der Psychiatrie. Welche Veränderungen hast du in all den Jahren beobachtet?

Ich hatte das Privileg, in der Psychiatrie tätig zu sein, als sie sich im Aufbruch befand. Es fand ein Wandel von der bewahrenden und verwahrenden Psychiatrie hin zu einer sozialpsychiatrisch ausgerichteten Psychiatrie statt. Sozio- und Milieu-, Familien-, Systemtherapien waren en vogue. Auch Guido konnte davon profitieren, war er doch mehrere Monate auf einer Psychotherapiestation in Behandlung. Seine Erkrankung konnte auch sie nicht heilen, bereitete aber den Weg zu einer zwölf Jahre langen Phase eines guten Lebens, mit der Arbeit in einer geschützten Einrichtung, Kultur- und Wandergenüssen sowie einem recht grossen Freundes- und Bekanntenkreis.

« Die menschliche Zuwendung, das Gespräch mit Patient*innen und das Eingehen auf ihre individuelle Persönlichkeit muss wieder an erste Stelle treten. »

Das klingt positiv. Dennoch liegt aktuell vieles im Argen. Was ist passiert?

Zum Glück sind viele der Errungenschaften aus dieser Zeit erhalten geblieben. Anzahlmässig genügen sie aber nicht. Das hat aus meiner Sicht damit zu tun, dass 2018 die Finanzierung mittels Tarpsy eingeführt wurde. Das ist ein diagnosebezogenes Tarifsystem mit Tagespauschalen. Je länger ein Aufenthalt dauert, desto niedriger werden diese Pauschalen. Das setzt falsche ökonomische Anreize, die Aufenthaltsdauern zu verkürzen. Damit macht sich die Ökonomie von der Dienerin zur Herrin über die Psychiatrie. Leider lassen sich mit dem Tarpsy die sozialpsychiatrischen Errungenschaften wie Ambulanz, Tageskliniken und aufsuchende Hilfe nicht finanzieren.
Die biologische Psychiatrie mit ihrer Vorstellung, dass psychische Erkrankungen Gehirnkrankheiten sind, hat in den letzten Jahren die Sozialpsychiatrie immer stärker verdrängt. Dies, obwohl bis heute weder von den Neurowissenschaften noch der Pharmaforschung wesentliche Fortschritte bei der Behandlung erzielt wurden.

Und was hast du als Angehöriger beobachtet?

Die Begleitung von Angehörigen hat sich gegenüber früher stark verbessert, vor allem, was die Angehörigenberatungen in den psychiatrischen Kliniken anbetrifft. Sie sind in praktisch allen Kliniken etabliert und nicht mehr wegzudenken. Was leider immer noch weitgehend fehlt, ist der direkte Einbezug der Angehörigen in die Behandlung. Deshalb engagiere ich mich weiterhin als Co-Präsident von Stand by You.

Was wünschst du dir für die Zukunft in Bezug auf die Psychiatrie?

Die menschliche Zuwendung, das Gespräch mit Patient:innen und das Eingehen auf ihre individuelle Persönlichkeit muss wieder an erste Stelle treten. Eine zukunftsfähige Psychiatrie muss eine sozialpsychiatrisch ausgerichtete Psychiatrie sein. Diese soll mit so wenig Betten wie möglich betrieben werden. Dort wo es noch Betten braucht, soll sie innovativ sein – mit offenen Türen. Wichtig ist der Trialog: Angehörige, Behandelnde und Patient:innen erarbeiten und entwickeln gemeinsam den Behandlungsplan, überprüfen dessen Erfolg und passen diesen an. Auch sollte die psychiatrische Behandlung auf Genesung, sprich Recovery, ausgerichtet sein. Bei diesem Konzept ist der Patient nicht einfach Empfänger einer Behandlung, sondern steuert den Genesungsprozess eigenverantwortlich.

Das klingt gut, aber wie funktioniert das?

Das Konzept muss in die Lebenswelten der Betroffenen und Angehörigen integriert sein, mit Ambulanzen, aufsuchenden Hilfen, Begleitung und Stützpunkten. Es braucht die vielgerühmte Inklusion, bzw. Zugehörigkeit, bei der psychisch erkrankte Menschen in die Gesellschaft integriert werden und es auch bleiben können. Damit wahr werden kann, was mit «Es ist normal, verschieden zu sein» gemeint ist. Kurzum: Es braucht mehr Empathie – weniger Pharmakotherapie. Eine medikamentöse Therapie ohne Psychotherapie sollte es nicht geben. Ausserdem muss regelmässig überprüft werden, ob eine Dosisreduktion oder Absetzung der Medikamente möglich ist.

Sie sind nicht allein

Sind auch Sie Angehörige:r oder Vertraute:r einer psychisch erkrankten Person? Wir sind für Sie da. Ob in täglichen Herausforderungen oder in Situationen der Hoffnungslosigkeit versuchen wir, Orientierung zu geben und gemeinsam Wege zu finden. Kontaktieren Sie uns.