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Isabelle Bavaud, angehörige Tochter

«Man darf nie den Mut verlieren»

Wie fühlt es sich an, mit einer Mutter aufzuwachsen, die entweder depressiv oder manisch, immer aber distanziert ist? Isabelle Bavaud weiss es. Die heute 54-jährige Mutter von zwei erwachsenen Kindern blickt im Gespräch auf ihre schwierige Kindheit zurück.
Maske

Isabelle, deine Mutter litt an einer bipolaren Störung. War sich dein Vater dessen bewusst, als er mit ihr eine Familie gründetet?

Zum ersten Mal hat mein Vater bemerkt, dass etwas nicht stimmte, als ich 6 Monate alt war. Meine Mutter ging damals oft in den Ausgang, war überdreht, was mein Vater nicht einordnen konnte. Meine Eltern haben früh geheiratet, meine Mutter war erst 21, als ich zur Welt kam, mein Vater 25. Später kam aus, dass meine Mutter bereits mit 18 ihren ersten Schub hatte, was jedoch verschwiegen blieb. Meine Mutter ging heimlich zu einem Psychiater, und mein Vater blieb komplett ahnungslos. Die nächste Episode folgte zweieinhalb Jahre später, als meine jüngere Schwester zur Welt kam. Die Manie artete dermassen aus, dass meine Mutter in eine Klinik musste.

Was geschah mit dir und deiner Schwester?

Mein Vater musste arbeiten, also wurden wir vorübergehend bei Verwandten untergebracht: ich bei der Schwester meiner Mutter, meine Schwester bei der Grossmutter. So wurden wir betreut, bis meine Mutter aus der Klinik entlassen wurde. Meine erste bewusste Erinnerung ist übrigens ein Gefühl von Heimweh und Alleinsein. Aufgewachsen sind wir dann aber bei meiner Mutter. Wir bekamen Unterstützung von meiner Grossmutter und unserer Tante. Später auch teilweise von einer Hauspflege. Manchmal hatten wir auch Hilfe von unserer Nachbarin. Trotzdem musste ich sehr früh Verantwortung übernehmen.

Kannst du dich erinnern, wie deine Mutter während einer Manie war?

Während einer Manie hatte sie Halluzinationen, erzählte, dass im Radio und in der Zeitung über sie berichtet würde. Sie war unberechenbar. Einmal hat mein Vater sogar seine Stelle verloren, weil er ständig notfallmässig wegrennen musste. Als ich zehn war, kam es zur Scheidung, so belastend war die Situation für meinen Vater. In einer Manie wollte meine Mutter von allem mehr – mehr Abenteuer, mehr Leben.

Wie würdest du deine Kindheit beschreiben?

Es war eine schwierige Kindheit. Meine Mutter war in einer Abwärtsspirale gefangen, denn jede Psychose hinterlässt Spuren. Die normalen Phasen wurden immer kürzer, die depressiven immer länger. Meine Schwester und ich waren oft allein. Andauernd um einen depressiven Menschen zu sein, ist belastend. Aber auch eine Manie ist für Angehörige schlimm. Man sieht sie kommen und muss machtlos zuwarten, bis es knallt. Durch ihre Depressionen hat meine Mutter ein sehr negatives Weltbild vorgelebt. In gesunden Phasen sorgte sie gut für uns. Während der Krankheitsphasen konnte es chaotisch werden. Es fehlten dann die Strukturen. Plötzlich durften wir morgens um zehn ein Eis essen und den ganzen Tag fernsehen. Gleichzeitig war es aber auch bedrückend zu sehen, dass sie traurig und krank war. Es hat mich verunsichert. Nie zu wissen, was als nächstes passiert, war belastend.

« Wir Angehörigen sind wahrscheinlich überdurchschnittlich belastbar. »

Wie hat sich denn dieses Schicksal auf dich und dein Leben ausgewirkt?

In der Schule habe ich unter Schwierigkeiten gelitten, war etwas auffällig. Das widerspiegelte sich in meinen dunklen Zeichnungen und meinen Problemen mit Mathematik. Ich wurde zum Schulpsychologen und Kinderarzt geschickt und kam zu einer Therapeutin, die mir Stabilität gab. Ich litt stark unter Schuldgefühlen, die meine Mutter gekonnt schürte. Als Teenager habe ich mich für meine Mutter geschämt. Intuitiv wusste ich, dass ich nicht über die Krankheit reden durfte. Ich hatte Angst, verurteilt zu werden – auch später im Berufsleben. Unter diesem Tabu habe ich gelitten. Aber ich wollte auf keinen Fall, dass man von mir dachte, ich sei nicht belastbar. Heute weiss ich, dass genau das Gegenteil der Fall ist: Wir Angehörigen sind wahrscheinlich überdurchschnittlich belastbar. Diese Stärke kam mir zugute: Ich wollte nie an meinem Schicksal zugrunde gehen. Ich bin dankbar, dass ich gesund geblieben bin, denn ich bin mir bewusst, dass ich gefährdeter bin als jemand, der in intakten Verhältnissen aufwächst. Auch bin ich sehr froh, dass es meinen Kindern gut geht. Mittlerweile sind sie 24 und 27 Jahre alt.

Bist du früh von zuhause ausgezogen?

Ja, mit 18. Ich wollte auf eigenen Beinen stehen. Auch meine Schwester ist früh ausgezogen. Unsere Mutter bekam einen Beistand. Das war ein schwieriger, aber notwendiger Schritt.

Hat deine Mutter mit Suizidabsichten gedroht?

Sie hat nie gedroht, sie hat es gemacht. Nach zwei Versuchen setzte sie ihrem Leben beim dritten Mal ein Ende. Es gab keinen Abschiedsbrief. Wie so typisch für diese heimtückische Krankheit, haben wir vor dem Suizid gedacht, es ginge ihr besser. Ich war 22, als es geschah. Heute bin ich darüber hinweg, aber vieles habe ich erst viel später aufgearbeitet.

Was ist dir als Angehörige wichtig für Kinder, die in einer ähnlichen Situation aufwachsen?

Man sollte das Tabu brechen – und in den Kliniken die Kinder nicht vergessen. 40 Prozent der Patient*innen in Psychiatrien sind mit einem psychisch kranken Elternteil aufgewachsen. Das Präventionspotenzial ist also riesig. Zum Glück gibt es einige Projekte, die sich für die Kinder einsetzen. Zum Beispiel das Kinderprojekt Barca der VASK Zürich, wo ich arbeite. Es bietet Kindern Raum, ihre verwirrenden Erfahrungen einzuordnen. Wichtig ist, dass über solche Projekte informiert wird. Angehörige sollten besser miteinbezogen werden. Manchmal brauchen Ärzte zwei Wochen, um herauszufinden, was Angehörige schon lange wissen.

Kannst du deiner Erfahrung etwas Positives abgewinnen?

Man darf nie den Mut verlieren. Meine Geschichte hat mich viel gelehrt. Sie hat mich toleranter gemacht – und auch tiefgründiger. Ich nehme die Menschen so an, wie sie sind. Es gibt Platz für alle, auch für Menschen, die anders sind. Ich bin dankbar dass ich gesund geblieben bin, dankbar für alle schönen Dinge, die mir mein Leben geschenkt hat.

Sie sind nicht allein

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