zurück
Josy Battaglia, Vertrauter und Freund

«Ich wünsche mir eine Gesellschaft mit einer inklusiven Perspektive»

Josy Battaglia kommt aus Poschiavo (GR), wo er geboren ist und mit seiner Familie lebt. Er leitet eine Einrichtung für Menschen mit psychischen, geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen, in der betreutes Wohnen sowie berufliche und soziale Inklusion angeboten wird. Er unterstützt Stand by you Schweiz, weil er Menschen wie Laura Regli begegnet ist: Mutter, aber vor allem eine resiliente Frau, die anderen Menschen in der gleichen Situation Kraft und Hoffnung gibt. Aus dem Alltag teilt er seine Gedanken und Haltung gegenüber psychischem Leiden.
Maske

Vor einiger Zeit wurde eine mir nahestehende Person notfallmässig in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Anfangs wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte; um ihr zu zeigen, dass ich ihr beistehe, beschloss ich, ihr an jedem Tag ihres Klinikaufenthalts eine Handynachricht zu schicken. In diesen 47 gesendeten Nachrichten versuchte ich die richtigen Worte zu finden, um Teil ihrer Welt zu bleiben und meine Welt mit ihr zu teilen. Ich wollte versuchen, die Zeit anzuhalten und dafür sorgen, dass wir uns beide weniger einsam fühlen angesichts der Distanz, die plötzlich zwischen uns lag.

Zuhören, sich Zeit nehmen und helfen, wenn sich jemand in einer schwierigen Lage befindet, gehört sicherlich zu den komplexesten und zugleich wichtigsten Aufgaben unserer Zeit. Einer Zeit, in welcher der Zusammenhang zwischen der Hektik unseres Lebens und der Einsamkeit unserer Mitmenschen tagtäglich offenbar wird. Angesichts einer plötzlich entstandenen sozialen Distanz einen menschlichen Umgang miteinander zu bewahren, ist eine Herausforderung, die uns alle angeht.

In meinem Privat- und Arbeitsleben begegne ich häufig Menschen, die aufgrund ihrer psychischen Gesundheit schwierige Situationen zu meistern haben. Neben dem Geben von Offenheit und Nähe konzentriere ich mich dabei auf den Aspekt des Erzählens.

Die Philosophin Barbara Bleisch sagte kürzlich an einer Konferenz mit dem Titel Diversität und das gute Leben: «Man ist nicht behindert, man wird behindert». Ungerechtigkeit sei keine Lotterie des Schicksals, sondern die Art und Weise, wie wir unsere Welt einrichten. Behinderung und Diversität seien im Wesentlichen eine Frage der Perspektive. So erläutert Bleisch, dass beispielsweise eine Person mit Achondroplasie (eine Form von Zwergwuchs) nicht einfach zu klein für die Welt ist, sondern die Welt zu gross.

Ich denke, wir sollten lernen, mit Leiden psychischer Art auf dieselbe Weise umzugehen, und zwar indem wir eine Gesellschaft der Zukunft gestalten, in der die Menschen mit derartigen «Leiden» nicht von der Gesellschaft ausgeschlossen werden, eine Gesellschaft mit einer integrativen Perspektive. Damit uns dies gelingt, müssen wir uns in erster Linie um eine Erzählweise bemühen, bei der «ihr» Problem zu «unserem» Problem wird. Und so wird es eines Tages vielleicht nicht mehr allein um «ihre» Unzulänglichkeit gehen, sondern um «unsere» Fähigkeit, zu verstehen.

Zuweilen, angesichts von Leid, sind die Worte, die wir uns sagen und die Geschichten, die wir uns erzählen, alles, was uns noch bleibt; wirksame Worte mit sozialen Folgen. Welche Folgen würden wir uns wünschen, wenn es sich um eine Angehörige oder einen Freund handelte? Oder vielleicht auch um uns selbst?

Versione italiana

Leggi il rapporto in italiano