«Eine Diagnose die unser aller Leben veränderte»
Es fing an, als sich Jassir, mein Erstgeborener (Jahrgang 97), im Gymnasium plötzlich sehr zurückzog. Bald merkten wir, dass er Cannabis konsumierte. Sofort meldeten wir ihn beim Jugendpsychologen an, denn seit der Primarschule war mir klar, dass er suchtgefährdet war. Weshalb, kann ich nicht sagen. Die Therapie half nicht, der Psychologe meinte bloss, ich solle nicht so hysterisch tun, wir hätten doch alle … Nein, ich habe nie gekifft und auch nie übermässig Alkohol konsumiert. Diese Aussage war fahrlässig von ihm. Jassir stürzte sich immer tiefer in die Drogen und entfernte sich – von der Schule und von uns. Es war nicht zum Aushalten. Doch wie belastend die Situation für die ganze Familie wirklich war, sollte sich erst später herausstellen.
Langsame Entfremdung
Wenig später wurde er mit einer Psychose in die Jugendpsychiatrie eingeliefert. Jeden Morgen fuhr ich ihn auf seinen Wunsch ins Gymnasium und abends wieder in die Klinik. Die Schule besuchte er kaum. Er verbrachte die Tage irgendwo im Wald, der Aufwand war umsonst. Er konnte gar nicht in die Schule. Er hat sich so geschämt und hörte Stimmen und wusste nicht, was mit ihm los war.
Rund ein Jahr später wollte er die Schule abbrechen und eine Lehre absolvieren. Zu einer Lehrstelle kam er leicht. Auch die BMS hatte er im Visier. Alles war eingefädelt. Kurz vor Start schickten wir ihn in ein sechswöchiges Sozialpraktikum nach Südafrika in die Slums, in der Hoffnung, es würde ihm guttun. Er kam schlechter zurück, als er gegangen war. Wirre Gedanken beherrschten seinen Kopf. Er war schon längst nicht mehr der Sohn, den ich kannte. Auch war er uns gegenüber oft aggressiv und überhaupt nicht einsichtig. Die Lehre brach er ab, er schaffte es nicht einmal mehr, mit dem Zug von A nach B zu gelangen. Uns tischte er Ausreden um Ausreden auf.
Aufenthalte im Libanon
Er lebte abwechselnd beim Vater oder bei mir. Wir sind geschieden. Der Vater ist Libanese und hatte die gute Idee, ihn für eine Weile in den Libanon zu schicken. Dort blühte er auf, es ging ihm gut und alle kümmerten sich um ihn. Auch war er in psychiatrischer Behandlung. Trotzdem fing er an, sich selbst zu verletzen. Jahre später gestand er mir, er hätte die Stimmen und die Leere und alles einfach nicht mehr ausgehalten. Er ritzte sich – und was noch schlimmer war – verbrannte sich mit der Zigarette die Handoberfläche. Das sieht man noch heute. Auch im Gesicht hat er Brandmale. Da die politische Situation im Libanon sehr instabil war, haben wir ihn immer wieder nach Hause genommen. Insgesamt war er mindestens zwei Jahre dort, verteilt über fünf Aufenthalte. Dies hat uns als Familie entlastet. In der Schweiz lief es immer gleich ab. Anfangs arbeitete er in einer Institution für psychisch Beeinträchtigte (Chur plus) oder bei seinem Vater im Restaurant, nach zwei Monaten, man konnte die Uhr danach stellen, landete er wieder in der Gasse. In den letzten Jahren konsumierte er nicht mehr Cannabis, sondern Koks und schliesslich Base, gerauchtes Koks. Er lebte im Stadtpark und war total süchtig.
Schlechte Aussichten
Jedes Jahr hatte er mindestens vier Klinikaufenthalte von vier bis sechs Wochen. Entweder wies er sich selbst ein oder wir taten es aufgrund von Selbstgefährdung. Über all die Jahre versuchte ich immer wieder vergebens, ihn zu einer Lehre zu motivieren. Er hat eine Rente und das wars. Mit 27 Jahren ist er sozusagen pensioniert, dabei möchte er unbedingt arbeiten. Er möchte auch die Matura nachholen, das ist ihm enorm wichtig. Aber es ist chancenlos.
Endlich die Wende
Letzten Frühling kam dann der totale Zusammenbruch: zehn Tage im Koma nach einer Überdosis an Medikamenten, Drogen und Alkohol. Jassir hatte einfach keine Perspektive mehr. Im Spital habe ich habe getobt und geschrien und gesagt: «Das nächste Mal findet der runde Tisch auf dem Friedhof statt, wenn jetzt nicht endlich etwas passiert, was ihn weiterbringt.» Eine tolle Assistenzärztin hat mich erhört und wollte mehr über unsere Geschichte erfahren. Ich erzählte ihr alles, auch, dass wir Jassir schon längst ausserkantonal in einer spezielleren Klinik für Sucht-und Schizophreniekranke behandeln lassen wollten. Nicht auf einer allgemeinen oder geschlossenen Abteilung, wo er mit Medikamenten ruhiggestellt und dann entlassen wird. Nach diesem Gespräch kam er – endlich, Gott sei Dank – ins Rehabilitationszentrum Lutzenberg. Dort lebt er seit dem 1. November 23 und ist so happy. Er sagte zu mir: «Mama, ich darf endlich so sein, wie ich bin: Ich kann arbeiten, muss kochen und helfe beim Tiere füttern. Sie sehen mich, ich bin nicht nur eine Nummer.» Diese Lösung ist eine grosse Entlastung für uns alle. Wir sind so dankbar, dass wir endlich Licht am Ende des Tunnels sehen.
Neuorientierung
Jassir hat die Diagnose paranoide Schizophrenie mit 21 Jahren erhalten. Ich war damals 47, und als mir ein Arzt erklärte, dass dies eine der schlimmsten psychischen Krankheiten wäre und noch dazu eine der schwersten Formen, brach ich zusammen. Nachdem wir während sechs Jahren alles unternommen hatten, um ihn aus der Sucht zu holen, war mir diese Diagnose ein Zuviel zu viel: zu viel Kraft verpufft, zu viel Hoffnung, zu viel Enttäuschung. Auch ich brauchte Unterstützung. Während einem Aufenthalt in Susch lernte ich, mich der Herausforderung zu stellen und zu akzeptieren, dass mein Sohn nie mehr gesund werden würde. Ich fand wieder zu mir, konnte wieder das Gute sehen, nämlich dass wir noch drei gesunde Kinder haben, und erkannte, dass ich beruflich etwas verändern musste. Doch erst sechs Jahre später, nach einem zweiten kleineren Zusammenbruch, schaffte ich es, meinen Job an einer Schule aufzugeben und einen Secondhandladen in der Churer Altstadt zu eröffnen. Dieser Schritt erforderte viel Mut. Aber es war das Beste, was ich tun konnte. Seitdem bin ich viel entspannter. Der ganze Druck war plötzlich weg – und mein Nervenkostüm wieder gestärkt. Dies ist jetzt ein Jahr her. Ich habe Zeit für meinen Sohn, meine Familie und meine Freunde.
Sanna Giovanoli und ihr Sohn schreiben ein Buch zusammen. Es ist eine Dokumentation ihres Familienalltags und seiner Fort-und Rückschritte. Selbstgeschriebene Songtexte untermauern, was es heisst, nicht in dieses System zu passen.
Songtext von Jassir, Dezember 23
lass einfach los, lass dich fallen
kein gefallen zu machen
nur du selbst und die unendlichkeit
ihr zwei ganz alleine
meine musik ist komplex
doch horche
denn sie erzählt mir was über mich
ich übe mich
im fühlen sinn
ein mensch ist wie ein kleiner windstoss
ich mein es ist nicht sinnlos
doch so schnell ist es vorbei
egal wer dir was vorschreibt
dieses Leben
herzlich willkommen zurück auf dem mond
hier sagt dir keiner nicht in dem ton
hier verschwindet jeder demon
hier ist alles leicht und neu
das gleicht einer freude
die du schon immer kanntest
im innern hattest
kuck in den flimmerkasten
seh ne pimmelfratze
hinten die katze
die spürt dass ich nähe brauche
diese welt ist so abgefuckt
ich glaub sogar die engel saufen
doch ich jag den takt
nur um diesen schmerz zu verarbeiten
was red ich eigentlich
ich kann schreiben
aber was ich will es eignet
sich nur hoffnungsvoll daran zu erinnern wie hoffnungslos alles scheint
ich habe zeit
und sie jagen sScheine
stimmen sind mir unangenehm
doch unter der härte
versteckt sich eine zärtlichkeit
sie mengt sich gleich sobald
ich loslasse mich einfach fallen lasse
auch wenn gleich ne Falle wartet
dort wo ich sie aufgestellt habe
und mich auf seltsame
weise gleich wenn die Nacht einbricht
wie ein stich
ins herz mir den verstand raubt
und mir zeigt wie grausam menschen sein können
und ich weiss höre
nur jeden tag den beweis dazu
scheisse kannst du immer
sorgenlos rumsitzen
drum spritzen
sie sich den scheiss in die senen
rauchen weiss
raufen sich gleich
jeden tag wird mein
glaube geprüft doch ich vertraue nicht vernünftig
ich glaube blind
gott du bist grossartig
solange wartete ich
auf einen text der mich trifft
bewegt berührt beschreibt
es ist zeit
mach dich breit
zeigt ihnen wie du tickst
wie du mich aus der wiege in
mitten der Krise ein lied über ziele singst
und sie tätowieren es
sprayen es auf die wand unter der brücke
eine lücke
in deinem gedächtnis auf die züge