Marianne Jordi erzählt von ihrer Kindheit mit ihrem psychisch erkrankten Bruder und wie sie erst Jahre nach seinem Suizid ihre eigene Rolle als Young Carer erkannte. Trotz vieler Herausforderungen ihres Bruders, darunter seine schwere Depression und spätere Klinikaufenthalte, bewahrt sie liebevolle Erinnerungen an gemeinsame Rituale, ihre WG-Zeit und die besondere Verbindung, die sie bis zu seinem Tod miteinander teilten. Ihre Geschichte zeigt eindrücklich, wie wichtig die frühzeitige Unterstützung junger Angehöriger ist, um belastende Erfahrungen besser bewältigen zu können.
Im Jahr 2017 verlor ich meinen Bruder durch Suizid. Wenn ich über Nik gesprochen habe, musste ich immer weinen. Die heftige Reaktion konnte ich mir nicht erklären. Ich machte mir keine Vorwürfe. Auch konnte ich seinen Entscheid verstehen. Warum die Trauer bei mir nicht besser wurde, das konnte ich nicht verstehen. Bis meine Schwester in unserem Elternhaus die Aufsätze von mir aus den frühen Schuljahren fand. Diese erschütterten mich zutiefst, denn sie zeigten auf, wie schwierig für mich die Situation als angehörige Schwester war. Viele der erlebten Dinge hatte ich vergessen oder verdrängt. Oder ich denke, dass ich sie mit einer kindlichen Art irgend auf eine Weise selbst verarbeitet habe. Niki erzählte immer die schönsten, selbst erfundenen Gutenacht-Geschichten. Oft haben wir zusammen im Wohnzimmer Rock’n‘Roll getanzt. Nach einer wochenlangen Velotour in den Norden kam er mit einem Berg voller Souvenirs nach Hause. Mit diesen schmückte er das ganze Buffet im Wohnzimmer und wir durften uns einfach bedienen.
« Natürlich sagte ich nichts, ich war brav, zuverlässig und angepasst. »
Im Herbst 1982 fing alles an, da war ich sieben und mein Bruder 18. Mein Ämtli nach dem Mittagessen war immer, mit der Mutter zusammen den Abwasch zu erledigen. Plötzlich war Nik jeden Tag zu Hause. Mein Amt übernahm er. Die Tür zur Küche war geschlossen, stundenlang und dies während Wochen. Ich sass allein am Tisch, erledigte meine Hausaufgaben und ging dann zu meiner Freundin. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Eltern mit mir ein Gespräch gesucht haben und mir kindgerecht erklärten, Nik sei schwer depressiv. Mein Bruder hatte oft starke Kopfschmerzen. Mein Vater hat ihm dann jeweils gesagt, er müsse halt eine Kappe anziehen. Ich fand mich oft in einem Loyalitätskonflikt zwischen meinem Bruder und meinen Eltern. Auch wenn mein Vater ihm sagte, er solle doch aufstehen und ihm Tätigkeiten wie Scherenschnitte oder Klavier spielen empfahl, merkte ich als kleines Mädchen, dass dies eigentlich nicht der richtige Weg war. Natürlich sagte ich nichts, ich war brav, zuverlässig und angepasst. So steht es auch in meinen Schulzeugnissen. Mein Zusammenleben mit Niki war nicht nur schön. Teilweise tickte er aus dem Nichts aus. Enorm enttäuscht war ich als kleines Mädchen, als er unser Sparschwein plünderte. Regelmässig legten wir beide Geld in dieses, um später eine Reise nach Paris zu unternehmen. Aber auch hier spürte ich, dass Nik einfach nicht anders konnte.
Niki war ein gescheiter Mensch. Er besuchte das Gymnasium und begann ein Medizinstudium. Als ich elf Jahre alt war, kam er zum ersten Mal in die Psychiatrie. Eines Nachts musste ein Arzt zu uns kommen, auch der Lehrer war da, wir hatten damals noch kein Auto. Ich erinnere mich, dass alles sehr laut und unruhig war. Nik erhielt die Diagnose manisch-depressiv. Kurze Zeit später besuchte ich Niki mit meiner zwölf Jahre älteren Schwester. Unheimlich war ein Erlebnis mit einem anderen Patienten. Wir sassen in der Cafeteria und dieser Mann schmiss mehrere Metallstühle um. Es war für mich sehr bedrohlich und ich hatte Angst. In dieser Zeit hatte unsere Familie viele Schicksalsschläge zu ertragen, unter anderem den tragischen Tod unseres ältesten Bruders im Jahr 1987. 1990 starb unsere Mutter nach langer Krankheit. Nik musste das Medizinstudium aufgeben und konnte eine verkürzte KV-Lehre bei einer Bank absolvieren. Zwischen 1989 und 1992 war er unzählige Male in der Klinik. Die Abschluss-Prüfung machte er aus der Klinik, mit gutem Ergebnis. Im Mai 1992 sprang er von der Kirchenfeldbrücke und verletzte sich dabei schwer. Im Spital fand er im behandelnden Arzt seinen zukünftigen Psychiater. Er konnte Nik die Medikamente gut einstellen.
Nik hat sich zurück ins Leben gekämpft. Zuerst arbeitete er bei einem Bauern, dann als Magaziner bei einem Grossverteiler. In diese Zeit fällt auch unsere gemeinsame WG-Zeit. Aus dem angepassten und braven Mädchen wurde eine junge Frau, die für sich einsteht. Allein im grossen Haus, mit einem Vater, der mit guten Argumenten schlecht umgehen konnte, wurde es für mich unerträglich. Nik wohnte damals bei einer befreundeten Nachbarin. So nahmen wir in einer Stadt eine einfache Wohnung. Mit einem Teilzeit-Magaziner- und Lehrlingslohn und einer Halbwaisenrente lebten wir bescheiden, aber wir waren glücklich. Zum ersten Mal musste ich eigentlich nur auf mich Rücksicht nehmen. Wenn ich abends nach Hause kam, wartete nicht noch Arbeit auf mich. Und Nik freute sich, mit mir zusammen zu sein. Ich habe das Leben in der Stadt geliebt und noch wichtiger, ich habe es gelebt. Nik war anfangs noch recht depressiv. Wir hatten ein offenes Haus, auch gerade am Wochenende war unsere Wohnung oft voll. Nik war immer an meinen Leuten interessiert. Er war offen und mit ihm konnte man auch herrlich philosophieren. Ich bin überzeugt, dass wir ihm alle mit unserer aufgestellten und unvoreingenommenen Art helfen konnten, stabil zu werden. Nik fand eine Arbeit als kaufmännischer Angestellter, zuerst in Teilzeit, kontinuierlich konnte er bis auf 100 Prozent erhöhen.
« Schleichend kam die Krankheit zurück. Wir merkten es, waren aber machtlos. »
Als ich für längere Zeit ins Ausland verreiste, gaben wir unsere WG auf. Nik nahm selbst eine Wohnung und er hatte viele gute und gesunde Jahre. Wir pflegten immer noch einen engen Kontakt. Etwas verspätet holten Niki und ich unsere Reise nach Paris nach. Schleichend kam die Krankheit zurück. Wir merkten es, waren aber machtlos. Wenn es ganz schlimm war, konnten wir Nik nicht mehr erreichen. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt drei kleine Kinder und konnte Nik nicht so unterstützen, wie ich es eigentlich gerne getan hätte. Während einer längeren depressiven Phase trafen wir uns mehrmals im Dählhölzli. Meinen geliebten Bruder so traurig unter all diesen lebendigen Kindern zu sehen, war kaum zu ertragen.
Kürzlich wäre Nik 60 Jahre alt geworden. Wir Schwestern haben ihm und unserem Vater ein Blümli gebracht und mit einem Glas Weisswein auf Nik angestossen. Meine Tränen werden weniger. Im Moment interpretiere ich diese als tiefe Verbindung für unsere spezielle Schwester-Bruderbeziehung. Ich glaube gehört zu haben, es brauche ein Drittel der Zeit, die man mit einem geliebten Menschen zusammen hatte, um über den Verlust hinwegzukommen. Diese lange Zeitspanne gibt mir Zuversicht auf meinem Weg. Bis vor einigen Jahren war ich mir nicht bewusst, dass ich ein Young Carer, sogar ein doppelter, war. Sowohl für Nik als auch für unsere Mutter. Ich hatte ja nie etwas anderes gekannt, seit ich denken kann. Ich wünsche mir, dass Kinder und Jugendliche, die mit (psychisch) erkrankten Menschen aufwachsen, die nötigen Informationen und Unterstützung erhalten. Dass sie Instrumente haben, um zusammen mit ihren eigenen Befähigungen diese schwierigen Situationen tragen und verarbeiten können. Sodass unsere jungen Menschen gut durch ihr eigenes Leben kommen. Ich bin überzeugt, dass mit einer guten Aufklärung an Schulen, nicht erst an der Berufsschule, viel bewirkt werden kann.
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