zurück
Michèle Pfister, angehörige Schwester

«Für mich war da einfach ein riesiges Loch»

Als ihre Schwester plötzlich psychisch erkrankte, blieb für sie und die Eltern kaum Zeit zum Nachdenken – nur zum Handeln. Michèle Pfister erzählt im Interview von einer Zeit zwischen Hoffnung und Hilflosigkeit, vom tiefen Familienzusammenhalt, vom unaussprechlichen Verlust – und davon, was ihr half, wieder Boden unter den Füssen zu finden.
Maske

Warum war es dir wichtig, deine Geschichte als Betroffene auf der Homepage von Stand by You zu erzählen?

Ich hatte das Gefühl, dass viele Menschen mit mir und meiner Geschichte völlig überfordert waren. Sie wussten nicht, wie sie mit jemandem umgehen sollten, der auf diese Weise einen so wichtigen Menschen verloren hatte. Egal in welcher Rolle, als Vorgesetzte, Teamkollegin oder Freundin. Und wenn nicht darüber gesprochen wird, ändert sich auch nichts.

Gerne würde ich nun über deine Schwester sprechen. Wann ist sie psychisch erkrankt?

Das war Anfang 2013. Sie war damals 24. Sie hatte damals bereits nicht mehr zu Hause gewohnt, sondern in einer WG in Zürich. Sie hatte das KV gemacht und auch auf diesem Beruf gearbeitet.

Was ist damals passiert?

Es war an einem Sonntag. Da kam sie immer zum gemeinsamen Mittagessen nach Hause zu den Eltern und damals auch noch der Grossmutter. Als sie nicht wie gewohnt gekommen ist, haben wir uns noch nicht so sehr gewundert. Das kann vorkommen. Aber dann bekamen wir einen Anruf von einer Mitbewohnerin, die uns erzählte, dass die Polizei bei ihnen sei und die Sachen meiner Schwester durchsuchte, und dass meine Schwester offenbar auf dem Polizeiposten war. Wir waren völlig perplex und haben sofort die Polizei angerufen. Die haben uns dann gesagt, dass sie von Passanten angerufen worden sind, die meine Schwester auf einer Autobahnbrücke gesehen haben, von der sie sich offensichtlich stürzen wollte. Zum Glück konnte die Polizei das noch rechtzeitig verhindern.

Konntet ihr da schon mit ihr sprechen?

Wir konnten sogar kurz telefonieren, als sie noch auf dem Posten war. Sie klang schon ein bisschen durch den Wind, irgendwie ferngesteuert. Aber eigentlich sehr ruhig. Sie sagte, dass sie jetzt ins Sanatorium Kilchberg gebracht wird. Mein Vater hat sie dann gefragt, ob sie möchte, dass wir sie dort besuchen? Und sie hat ja gesagt

Kam dieser Vorfall für euch überraschend oder hatte sie schon früher psychische Probleme?

Es gab wirklich keinerlei Anzeichen oder Vorwarnungen, dass so etwas passieren könnte. Meine Schwester war bis dahin immer ein sehr fröhlicher und offener Mensch.

Und wie habt ihr sie im Sanatorium vorgefunden?

Sie wirkte sehr bleich und wie gesagt ferngesteuert. So ein bisschen wie unter Drogen.

Aber das war sie nicht?

Nein, überhaupt nicht. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt auch noch keine Medikamente bekommen. Drogen waren auch nie ein Thema für meine Schwester. Ich glaube, einmal hat sie mit einer Kollegin ein Paket Zigaretten geraucht, aber das hat ihr offensichtlich nicht geschmeckt. Allenfalls trank sie gesellschaftlich etwas Alkohol, aber nichts Übertriebenes.

Und was meinte sie selbst zum Vorfall mit ihr auf der Autobahnbrücke?

Sie schien damals sehr über sich selbst erschrocken zu sein. Sie wisse nicht, was in sie gefahren sei. Sie wolle sich nicht umbringen. Sie wollte leben. Das glaubten ihr alle: die Psychologin, das Pflegepersonal in Kilchberg, wir als Familie. So wurde vereinbart, dass sie einfach noch zur Sicherheit eine Nacht zur Beobachtung in der Klinik bleibt.
Dann fuhren wir so weit beruhigt nach Hause. Doch am selben Abend kam der Anruf aus Kilchberg. Meine Schwester hatte offenbar ein Glas mit ins Zimmer genommen, dieses zerbrochen und sich mit den Scherben die Pulsadern an beiden Armen aufgeschnitten. Sie wurde im Spital notversorgt und nach Kilchberg zurückgebracht, wo sie in einem Isolationszimmer untergebracht wurde. Dort begann sie, einen Pfleger zu schubsen. Als sie damit nicht aufhörte und immer aggressiver wurde, musste sie zusätzlich für kurze Zeit ans Bett fixiert werden. Am nächsten Tag haben wir sie wieder besucht. Sie wirkte stark sediert. Wahrscheinlich war sie es auch. Sie war nur noch die Hülle meiner Schwester. Jedenfalls war die Person dahinter nicht mehr meine Schwester.

« Wir wussten nicht, ob wir dieser Verbesserung trauen konnten. »

Ihr konntet sie in der Isolationsabteilung besuchen?

Soweit ich weiss ist das normalerweise nicht möglich. Aber die behandelnden Ärzte hatten bei uns das Gefühl, dass unser offensichtlicher Familienzusammenhalt ihr guttun könnte. Wir haben sie in dem Monat, in dem sie in der Klinik war, bestimmt ein- oder zweimal am Tag besucht. Manchmal morgens meine Mutter und abends mein Vater oder umgekehrt. Die Ärzte fanden diesen Familienzusammenhalt sehr aussergewöhnlich.

Was für eine Krankheit wurde der Schwester bei diesem Aufenthalt diagnostiziert?

Die Ärzte sprachen von einer starken Psychose.

Habt ihr mit ihr über die Beweggründe für ihr Verhalten gesprochen?

Wir sind eine Familie mit einem starken christlichen Glauben. Sie erzählte uns, dass sie irgendwie das Gefühl hatte, ihr Leben verpfuscht zu haben und dass es für sie plötzlich keinen Weg mehr zurück gab. Für uns war dieses Gefühl nicht nachvollziehbar. Vor diesem Vorfall war ja nichts Aussergewöhnliches vorgefallen. Sie ist nicht irgendwie in Drogen abgestürzt oder hat irgendwelche andere krasse Sachen gemacht. Und wenn man wie wir im christlichen Glauben aufwächst, dann weiss man eigentlich, dass es keine Fehler gibt, die eine Rückkehr verunmöglichen würden.
Aber man konnte ihr sagen, was man wollte. Nichts schien zu ihr durchzudringen.
Offenbar hatte sie auch Stimmen gehört, die ihr sagten, sie solle über die Autobahnbrücke springen oder sich die Pulsadern aufschneiden.

Und dann?

Nach einigen Wochen im Sanatorium Kilchberg ging es ihr plötzlich von einem Tag auf den anderen besser. Das war auch etwas beängstigend. Wir wussten nicht, ob wir dieser Verbesserung trauen konnten. Aber für die Klinik gab es keinen Grund mehr, sie zu behalten.

Ging sie zurück in ihre WG oder zu euch nach Hause?

Für ihre WG-Kolleginnen war dieser plötzliche Wandel verständlicherweise unheimlich und nicht ganz glaubwürdig. Und auch wir als Familie fanden es besser, dass sie wieder zurück in die Elternwohnung kam.

Und wie alt warst du damals?

Ich war 23, sie fast 25 Jahre alt. Wir sind nur eineinhalb Jahre auseinander. Ich wohnte damals immer noch zu Hause, weil ich noch in der Lehre zur FaGe war. Und da hat man nicht so einen grossen Lohn.

Wie war dein Verhältnis zu deiner Schwester?

Wir haben uns immer sehr gut verstanden. Wir waren auch altersmässig sehr nah beieinander. Und meine Familie ist früher oft umgezogen. Das hat sie auch zu meiner besten Freundin gemacht. Abgesehen von ein paar schwierigen Phasen in der Pubertät haben wir uns immer gut verstanden.

Nun war die Schwester wieder zu Hause. Wie ging es ihr da?

Sie nahm weiterhin Psychopharmaka und hatte davon wohl jede mögliche Nebenwirkung, die auf der Packungsbeilage stand, teilweise auch komplett gegensätzliche. So haben zum Beispiel ihre Hände gezittert, und man hat gesehen, dass sie innerlich aufgewühlt war. Andererseits konnte sie sich zu nichts Sinnvollem aufraffen.  Sie bekam von den Medikamenten sogar Rückenschmerzen. Sie ging weiterhin einmal pro Woche in die Psychotherapie. Irgendwann entschied meine Schwester in Absprache mit der Psychologin, dass sie die Medikamente absetzen möchte. Ihr war dabei völlig klar, dass es einen Rückschlag geben könnte. Aber die Nebenwirkungen waren für sie einfach nicht mehr tragbar. Offenbar hat sie damals auch der Psychologin gesagt, dass sie lieber sterben möchte, als den Rest ihres Lebens mit diesen Nebenwirkungen so weiterzumachen. Sie war wirklich zu nichts mehr fähig, nicht einmal auf dem Sofa sitzen konnte sie noch wirklich.

Und das hat sich danach verbessert?

Kaum hatte sie die Medikamente abgesetzt, ging es ihr sehr schnell besser. Sie wurde wieder fitter. Sie konnte wieder arbeiten, wenn auch zunächst nur halbtags. Sie hatte wieder Energie, Dinge anzupacken. So informierte sie sich auch über Umschulungsmöglichkeiten. Sie wollte mit Kindern arbeiten und kümmerte sich um einen entsprechenden Ausbildungsplatz. Sie zog auch wieder in die WG nach Zürich. Alles schien wieder in Ordnung zu sein und wir begannen, ihr und der Situation zu vertrauen.

Doch leider zu Unrecht.

Richtig, dann kam eines Abends Ende Mai das Telefon einer Kollegin aus der WG, die uns erzählte, dass sie nach Hause gekommen seien und die leere Wohnung mit offener Tür vorgefunden hätten. Die Tasche und die Jacke meiner Schwester seien zwar da, aber sie selbst nicht. Das gab uns auch kein gutes Gefühl, aber wir wollten noch etwas abwarten. Nach einer halben Stunde rief sie wieder an und meinte, dass sie noch immer nicht zurückgekehrt sei und ihnen nicht wohl dabei sei. Da riefen wir die Polizei an. Aufgrund ihrer Vorgeschichte machten sich diese auch sofort auf die Suche nach meiner Schwester. Wir konnten dann nur noch warten. Schliesslich läutete es um 3 Uhr am Morgen an der Tür. Da wussten wir, es ist etwas Schlimmes passiert. So standen auch zwei Polizisten draussen, die fragten uns, ob meine Schwester eine Gürtelschnalle mit einer goldigen Rose habe, was ich bejahte. Worauf sie uns mitteilten, dass sie meine Schwester unter einem Zug gefunden hätten.

Und wann war das passiert?

Das war schon früh am Abend passiert. Als die Kolleginnen aus der WG uns anriefen, war sie bereits tot. Es hätte also niemand schneller oder besser reagieren können.

« Das Einzige, was in diesem Moment bleibt, ist die Gewissheit, dass es aus irgendeinem Grund so kommen musste. »

Wie war diese erste Zeit danach für euch als Familie?

Meine Eltern haben es rückblickend sehr gefasst aufgenommen. Vor allem mein Vater hat offenbar von Anfang an mithilfe von Gott eine Art Ruhe gefunden, eine Geborgenheit. Das war bei mir nicht so. Für mich war da einfach ein riesiges Loch. Und ich hatte das Gefühl, dass ich ins Bodenlose falle. Der schlimmste Moment war dann für mich der erste Morgen. Du wachst auf und bist froh, dass dieser schreckliche Traum vorbei ist. Und nach ein paar Sekunden wird dir bewusst, dass es kein Traum war.

Und wann hast du wieder Boden gespürt?

Eines Abends, bevor ich schlafen ging, betete ich zu Gott und bat ihn, mir einen Grund zu geben. Ich hätte doch alles dafür gegeben, damit es meiner Schwester besser geht. Ich weiss bis heute nicht, was ich geträumt habe oder ob ich überhaupt etwas geträumt habe. Aber am nächsten Morgen bin ich mit der Gewissheit aufgewacht, dass es überhaupt keine Rolle spielt. Alles, was ich hätte geben können, wäre eh keine Option gewesen. Deshalb spielt der Grund keine Rolle. Das Einzige, was in diesem Moment bleibt, ist die Gewissheit, dass es aus irgendeinem Grund so kommen musste. Jede Erklärung wäre mir sowieso nicht gut genug gewesen. Diese Gewissheit des Unausweichlichen hat mir dann die Ruhe gegeben, das für mich zu verarbeiten und mit dem Trauerprozess zu beginnen.
Mein Vater hatte ein anderes Schlüsselerlebnnis, das mich sehr beeindruckt hat. Er hat mir einmal erzählt, dass er bei der Beerdigung auf dem Friedhof plötzlich das Gefühl hatte, dass neben ihm wie eine Nebelwand hochzog. Und hinter dieser Nebelwand habe er den Umriss einer jungen Frau gesehen. Er hätte in dem Moment gewusst, dass da hinten der Himmel sei und die Silhouette dieser jungen Frau meine Schwester.

Mittlerweile sind 12 Jahre seit dem Selbstmord deiner Schwester vergangen. Wie geht es dir heute?

Wenn ich die erste Zeit an meine Schwester gedacht habe, dann habe ich einen Lebensweg vor mir gesehen, auf dem sich links und rechts vom Weg riesige schwarze Löcher auftaten, überall dort, wo sie hätte sein sollen. Das war lange so. Doch irgendwann mit der Zeit habe ich gemerkt, dass die Löcher kleiner werden. Heute sind es vielleicht noch Punkte, aber sie sind noch da als Markierungen.

Gibt es für euch rückblickend irgendeine Unterstützung, die ihr euch während der akuten Zeit deiner Schwester gewünscht hättet?

Ehrlich gesagt war diese Phase so kurz und intensiv, dass wir gar Zeit und Energie hatten, uns nach irgendwelcher Unterstützung umzuschauen. Zwischen dem ersten Vorfall bis zum Tod lagen ja weniger als fünf Monate. Wir haben einfach funktioniert und von Moment zu Moment reagiert und entschieden. Uns hat damals sicher geholfen, dass wir es als Familie gut hatten und zusammengehalten haben. Das Einzige, was ich mir als Angehörige rückblickend gewünscht hätte, wäre mehr Verständnis und Raum seitens des Arbeitgebers. Das war bei mir sehr schwierig.

Wenn wir jetzt den Bogen noch schliessen und zu deiner Motivation für dieses Interview zurückkommen, was möchtest du Menschen noch mitgeben, die etwas Ähnliches erleben?

Hol dir Hilfe und nimm sie an, auch wenn du das Gefühl hast, du schaffst das schon. In einer solchen Situation hast du einfach nicht die Kapazität und die Kraft, alles alleine zu bewältigen. Das kann beruflich oder emotional sein. Wenn du also Menschen hast, die dir Hilfe anbieten, nimm sie an. Auch wenn es nur etwas ganz Banales ist, wie etwas zu organisieren. Du brauchst alle Kraft, die du in dieser Zeit aufbringen kannst.

Sie sind nicht allein

Sind auch Sie Angehörige:r oder Vertraute:r einer psychisch erkrankten Person? Wir sind für Sie da. Ob in täglichen Herausforderungen oder in Situationen der Hoffnungslosigkeit versuchen wir, Orientierung zu geben und gemeinsam Wege zu finden. Kontaktieren Sie uns.