Anya Ruge und ihr Mann gehen seit bald 40 Jahren gemeinsam durchs Leben. Dieser Weg war und ist nicht immer einfach – gerade dann nicht, wenn ihr geliebter Partner eine der dunklen Phasen durchlebt. Wie sie mit ihrer Angst umgeht, wie Scham und Hilflosigkeit lähmt und wie sie doch immer wieder Kraft schöpft, erzählt sie unglaublich offen und eindrücklich. Eine Geschichte, die nachhallt.
Gestern Nacht bin ich ihm wieder begegnet, dem zutiefst traumatisierten, hilflosen kleinen Jungen. Er ist sieben Jahre alt, als sein Vater an einem Herzinfarkt stirbt. Er steht vor dem Ehebett. Allein. Beobachtet. Wartet, bis der Vater wirklich tot ist – und freut sich. Es läuft mir kalt den Rücken hinunter, wenn ich mir vorstelle, was mein Ehepartner als Kind alles erlebt haben muss. Was muss geschehen sein, dass er sich freuen kann, wenn der eigene Vater stirbt – ein Vater, den er später nur noch «als Monster» bezeichnet.
Der Junge von damals ist heute mein Ehepartner. Er dreht sich ruckartig im Bett von mir weg. Ich bin alarmiert, mein Radar läuft auf Hochtouren: Nach 38 Jahren gemeinsamer Vergangenheit weiss ich, was das bedeuten kann. Die alles entscheidende Frage lautet nun: «Was tun?» Mir klopft das Herz bis zum Hals, liege stocksteif im Bett, warte ab, richte alle meine Sinne auf das Wesen neben mir. Freeze, Fight, Flight, von nun an ist alles möglich. Ein unerwartetes ruckartiges Zucken läuft durch seinen verkrampften Körper. Trösten? Ich rücke näher an ihn heran, will den Arm um ihn legen – er schreckt zurück, als wäre ich Starkstrom. «Fass mich nicht an», wispert es tränenerstickt, kaum hörbar.
Ich klettere im Dunkeln aus dem Bett, setze mich vor ihn auf den Fussboden, schlinge die Arme um meine Knie, um mich innerlich zu schützen und warte schweigend, weil ich nicht ganz weiss, was nun gut wäre. Er zuckt erneut heftig, als fühlte er Messerstiche in seinem Magen. Kaum hörbar presst er hervor: «Ich muss durch die Hölle. Wo kann ich hin, damit mich niemand sieht?» Unsere drei Söhne sind alle ausser Haus, ich muss niemanden mehr schützen.
« Jeder Instinkt in mir will fliehen, doch die Sorge um ihn hält mich fest. »
In solchen Situationen spüre ich, wie mein Herz bis zum Hals schlägt – so laut, dass man es wohl durch die Zimmertür hören könnte. Ich sehe ihn an, meinen Mann, und sage leise: «Dir ist schon klar, dass ich Angst um dich habe.» Auch wenn er sich abwendet, weil Scham ihn lähmt, bleibe ich. Jeder Instinkt in mir will fliehen, doch die Sorge um ihn hält mich fest. Zu gross ist die Furcht, was passieren könnte, liesse ich ihn allein. In Allem versuche ich, ruhig zu bleiben, mache vorsichtige Vorschläge – eine Tablette, eine Tasse Tee, vielleicht ein Spaziergang durch die Dunkelheit des Waldes. Doch alles prallt ab, er lehnt jedes Angebot ab. Mein Kopf arbeitet fieberhaft, sucht nach einem Weg, wie ich ihn erreichen kann.
Dieses Mal hilft Eis, Eis in einer Plastiktüte. Eis, das in seinen Händen schmilzt. Plötzlich brechen alle Dämme. Der tiefste Seelenschmerz dringt aus seinem Mund, ein Schluchzen, das aus seiner persönlichen Hölle ans Tageslicht drängt, gefolgt von herzzerreissendem, nicht enden wollendem Weinen. Wir haben es dieses Mal wieder geschafft, haben einen Weg gefunden.
Ich wiederstehe meinem inneren Drang, ihn zu streicheln – es macht es nur schlimmer. Zusammengekauert am Fussboden darf ich nur Zuschauerin sein. Es ist hart für mich. Doch auch so zeige ich ihm: Ich bin da. Ich stehe dir bei.
« Unsere Beziehung ist alles andere als normal – sie ist etwas ganz Besonderes. »
Die Auslöser für diese Phasen sind vielfältig und reichen tief in die Kindheit zurück. Wir haben Methoden entwickelt, um damit umzugehen, sie besser handeln zu können. Wir haben uns Hilfe geholt bei Psychiatern und Psychologen. Haben alle möglichen Therapien ausprobiert und durchgeführt. Ich habe viel gelesen, um mehr über die Erkrankung zu erfahren und helfen zu können. Und es ist tatsächlich besser geworden,
Seit bald 40 Jahren gehen wir einen gemeinsamen Weg. Wegen dieser Phasen ist unsere Beziehung alles andere als normal – sie ist etwas ganz Besonderes. Denn wir haben mehr als «normale» langjährige Ehepaare. Wir wissen, was es heisst, immer wieder ganz unten anzukommen. Wir schätzen unseren normalen, guten Alltag auf eine aussergewöhnliche Weise. Wir sind stets herausgefordert, unsere Resilienz zu trainieren, zu kämpfen, nicht aufzugeben und zu wissen, es lohnt sich!
« Die Kunst dabei ist, sich selbst schützen zu lernen, sich selbst als Angehörige auch emotional soweit zurückzunehmen, dass man sich selbst nicht verliert. »
Die Kunst dabei ist, sich selbst schützen zu lernen, sich selbst als Angehörige auch emotional soweit zurückzunehmen, dass man sich selbst nicht verliert. Ich habe gelernt, dankbar zu sein. Dankbar für meinen Stolz auf unsere drei Söhne, dankbar für unsere körperliche Gesundheit, dankbar für all die wunderschönen Momente in meinem Leben, egal ob gross oder winzig klein. Ich gehe mit offenen Augen durch diese Welt, tanke aus allem Kraft, was für mich positiv sein kann.
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