«Man muss lernen zu akzeptieren, dass es so ist»
Lass uns an den Anfang eurer Angehörigen-Geschichte gehen, wie habt Ihr gemerkt, dass euer Kind psychisch krank ist?
Irgendwann nimmt man wahr, dass sich sein Kind verändert und anders benimmt als früher und vielleicht auch anfängt, etwas komische Fragen zu stellen. Zudem gab es auch entsprechende Feedbacks von Lehrerinnen und Lehrern, aber auch aus dem Freundeskreis. Das kann unter Umständen ein sehr langsamer und schleichender Prozess sein, denn man schreibt einiges der Pubertät zu, bis du dann Hilfe bei einem Doktor oder Psychiater suchst.
Und dann erhältst du die Diagnose, dass das Kind an einer psychischen Krankheit leidet. Was habt ihr damit gemacht?
Ganz am Anfang weisst du ja überhaupt nichts. Du bist mit der Diagnose des Psychiaters völlig allein, weisst nichts über Nebenwirkungen etc.. Er hat uns die Medikamente gegeben und gemeint, wir sollten in zwei Wochen wieder kommen. Dann haben wir natürlich versucht, möglichst viel über diese Krankheit herauszufinden. Aber damals war das noch nicht so einfach. Das Internet war erst noch in seinen Anfängen. Und andere Leute zu fragen, getrauten wir uns am Anfang noch nicht. Wir hatten aber das Glück, dass wir einen Kinder- und Jugendpsychiater gut gekannt haben. Der hat uns dann schon einiges über die Krankheit erzählt.
Wie hast du diese erste Phase der Krankheit als Angehöriger erlebt?
In den schwierigen Phasen der Krankheit kannst du als Eltern nur beobachten und zuschauen. Du wirst nicht mehr akzeptiert, wirst zurückgestossen und häufig hörst du auch nichts mehr, respektive das erkrankte Kind gibt keine Antwort mehr. Dann überlegst du dir natürlich laufend, ob man etwas falsch gemacht hat und was es bräuchte, damit es besser wird. Grundsätzlich fühlt man sich sehr hilflos und alleingelassen. Im Geschäftsleben hatte ich spezifische Coachings, wie man mit den Angestellten, respektive den Kolleginnen und Kollegen umgehen soll, was für einen guten Teamgeist förderlich ist und was nicht. Davon konnte ich gewisse Sachen als gute Ansatzpunkte brauchen, aber in solchen Situationen ist noch viel mehr gefragt.
Und was hat euch in dieser Situation geholfen?
Wir suchten Hilfe und wendeten uns an die VASK Zürich, wo ein Kurs für Angehörige angeboten wurde. An sechs Abenden referierten Fachleute wie Ärzte oder Pfleger über die verschiedenen Aspekte von psychischen Erkrankungen. An diesen Abenden lernt man auch andere Angehörige kennen, die in ähnlichen Situationen sind und die man vielleicht auch mal anrufen kann, wenn man jemanden zum Reden sucht. Diese VASK-Abende haben mir wichtige Eindrücke vermittelt. Auch gab es einschlägige Literaturlisten, die mir weitergeholfen haben. Für meine Frau und mich war das der Startschuss für ein langjähriges Engagement bei der VASK.
Was rätst du Menschen, die neu in die Rolle der Angehörigen geraten?
Sprecht mit anderen Angehörigen. Aber besprecht mit den betroffenen Liebsten, wem ihr davon erzählen möchtet. Die meisten Betroffenen sind hochsensible Menschen. Man kann ihnen nichts vormachen. Holt euch Hilfe bei Organisationen wie Stand by You oder den VASKen in den Regionen. Für die Betroffenen sind Peers eine gute Quelle. Wenn das erkrankte Familienmitglied versucht, einen in seine Welt hineinzuziehen, wäre es gut, dies nicht zuzulassen. Man darf ihm weder recht geben noch widersprechen. Es empfiehlt sich, auch mal eine Diskussion «gerade stehenzulassen». Man kann nicht erzwingen, dass die Erkrankung weggeht; man kann sie nur als Teil des Lebens akzeptieren. Dabei hilft es, sich an den vielen kleinen Dingen zu erfreuen, die gut funktionieren.
Für einen Angehörigen ist es wichtig, dass er eine gewisse Distanz wahren kann. Er muss gut zu sich schauen und ein möglichst positives Umfeld pflegen. Darum war es für mich auch immer wichtig, dass ich und meine Frau auch in schwierigen Phasen zusammen in die Ferien fuhren. Eins ist absolut wichtig: Du musst ein gesunder Angehöriger sein, damit du ein guter Angehöriger sein kannst.
Wie hat diese neue Rolle als Angehöriger die Beziehung zu deiner Frau verändert?
Offenbar zerbrechen oft Beziehungen, da sich die Partner «die Schuld» gegenseitig zuschieben. Das war bei uns nicht so, aber natürlich fragt man sich, was habe ich falsch gemacht? Das ist sehr schlimm am Anfang. Irgendwann sind wir zum Schluss gekommen, dass wir eigentlich nichts falsch gemacht haben. Wir haben uns Mühe gegeben und wir haben so gut wie es für uns möglich war, das Beste gegeben. Sicher haben wir nicht alles perfekt gemacht, aber sich deswegen aufzureiben, das geht auch nicht. Man muss einfach akzeptieren, dass es jetzt so ist. Wir hatten zudem auch noch ein zweites Kind, das keine psychische Erkrankung hatte und mit dieser Situation sehr gut umgegangen ist.
Ich erinnere mich an einen Kursabend, zu dem es uns begleitet hat. Da hat jemand gefragt, wie das denn sei, wenn ihr Geschwister so psychisch krank sei. Darauf folgten ein fragender Blick und die Worte: Das ist doch einfach mein Geschwister. Ich kenne es ja nur so, und das ist okay so! Damit war es gut auf den Punkt gebracht und wir erinnern uns oft daran. Es ist einfach so und wir machen das Beste daraus.
Aber grundsätzlich birgt so eine Krankheit schon die Gefahr, dass andere Familienmitglieder sich vernachlässigt fühlen könnten?
Das ist so. Es ist enorm wichtig, dass man seine Aufmerksamkeit so gut es geht zwischen den Menschen, die einem wichtig sind, teilt. Ob Familie oder Freundeskreise, es ist wichtig, dass alle einbezogen sind und verstehen, warum es manchmal mehr Zeit für eine bestimmte Person braucht. Man muss darüber reden, muss es zur Sprache bringen. Natürlich geht das manchmal besser und manchmal nicht so gut.
Was hättest du dir als Angehöriger von den Institutionen noch mehr gewünscht?
Ich hätte mir von der Ärzteschaft viel mehr Informationen über die Krankheit gewünscht, aber auch darüber, wo wir uns Hilfe und Unterstützung hätten holen können. Wir arbeiten bei der VASK schon lange daran, dass Angehörige besser verstanden und angehört werden, dass Ärzte und Kliniken Broschüren und sonstige Informationen verteilen. Heute sind bereits Anstrengungen im Gange, dass bei der Aufnahme in eine Klinik zwingende Fragen zur familiären Situation gestellt werden müssen. Gibt es zu Hause Kinder, einen Mann oder eine Frau, um die man sich kümmern muss? Da ist in den vergangenen Jahren zwar schon einiges in Gang gekommen, aber noch lange nicht überall und noch nicht genug.
Und dann läuft es eine Zeit lang gut und dann plötzlich wieder nicht mehr. Was hat euch bei Rückschlägen geholfen?
Ich habe kein Rezept dafür. Das hängt, glaube ich, von jedem einzelnen ab, aber für mich kommt mir da immer wieder der vorher erwähnte Spruch in den Sinn: «Es ist einfach mein Geschwister und das ist gut so». Wir als Eltern haben das für uns verinnerlicht: Das ist einfach unser Kind und das ist gut so. Und wir hoffen, dass es gut kommt. Man darf die Hoffnung nicht aufgeben. Das ist das Wichtigste. Auch unser Kind hat einen extrem starken Willen und sucht immer Verbesserungen und Lösungen. Das bewundern wir und es stimmt uns positiv.
Es gibt Leute, die halten sich über Wasser, indem sie sich sagen, das wird gut, es wird dann schon alles wieder gut wie früher. Für uns funktioniert das nicht so, wir haben uns gesagt, gut wird es wahrscheinlich nie. Sollte es trotzdem so kommen, dann freuen wir uns mega. Wir denken: Es wird sicher besser. Es gibt immer irgendeinen Weg zu einer Verbesserung und diesen Weg finden wir alle miteinander. Wir waren immer überzeugt, dass wir eine Lösung finden, egal wofür und was passiert.
Sind auch Sie Angehörige:r oder Vertraute:r einer psychisch erkrankten Person? Wir sind für Sie da. Ob in täglichen Herausforderungen oder in Situationen der Hoffnungslosigkeit versuchen wir, Orientierung zu geben und gemeinsam Wege zu finden. Kontaktieren Sie uns.