«Betroffen und angehörig zugleich»
Deine Mutter leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und damit einhergehend unter Depressionen. Wann wurde dir klar, dass deine Mutter krank ist?
Seit meinem 13. Lebensjahr wurde meine Mutter regelmässig in die Psychiatrie eingewiesen. Die akuten Phasen und die Aufenthalte in der Klinik waren schlimm für mich. Ich habe drei jüngere Geschwister und entsprechend früh viel Verantwortung übernommen. Eine Verantwortung, die nicht altersgerecht ist.
Wie oft musste deine Mutter in die Klinik?
Unzählige Male. Während sechs Jahren war es höchst intensiv. Sie war drei Monate in der Klinik, ein paar Wochen zu Hause und wurde dann wieder eingeliefert oder besuchte die Tagesklinik.
Wer hat euch in dieser schweren Zeit unterstützt?
Ausser meinem Vater eigentlich niemand. Aber auch er konnte oft nicht zu uns schauen, da auch er keine Unterstützung erhielt und viel arbeiten musste. Also war ich da für meine Geschwister – und ab und zu zwei liebe Nachbarsfamilien.
Wann hast du realisiert, dass es so nicht sein sollte?
Das ging sehr lange. Was diese Situation mit meinem Leben gemacht hat, habe ich erst in der Weiterbildung zur Angehörigenbegleiterin richtig realisiert, die ich letztes Jahr abgeschlossen habe. Lange dachte ich, das mache jedes 14-jährige Kind. Mit 15 kam ich selber in die psychiatrische Klinik. Aufgrund der Überbelastung, aber auch infolge von Mobbing und Schwierigkeiten in der Schule wurde ich selber zur Betroffenen. Ich litt an einer Angststörung. Lange Zeit habe ich nicht realisiert, dass mich auch meine Angehörigenrolle in die Krankheit getrieben hat. Ich dachte, nur die Schwierigkeiten in der Schule seien der Auslöser gewesen.
Eine belastende Situation: Dann waren deine Mutter und du Betroffene und Angehörige zugleich?
Ja, das war in der Tat eine ungünstige Kombination. Wir haben uns gegenseitig runtergezogen. Wem es gerade besser ging, der schaute zur anderen. Während meinem zweiten Aufenthalt in der Psychiatrie ermutigte mich mein Psychiater, von zu Hause auszuziehen. Dieser Schritt war schwierig, denn ich musste meine drei Brüder zurücklassen. Dennoch war es das Beste, was ich tun konnte.
Wie alt warst du damals?
Knapp 18.
Hast du das alleine geschafft?
Ich durfte als Untermieterin zur Familie meines jetzigen Mannes ziehen. Wir sind zusammen, seit ich 16 war. Die Lösung war ein Glücksfall. Endlich konnte ich mich von der Verantwortung lösen, die jahrelang auf meinen Schultern gelastet hatte. Ich konnte zu meiner Gesundheit schauen und alles aufarbeiten. Und endlich hatte ich die Kraft, eine Ausbildung an einem geschützten Arbeitsplatz zu absolvieren. Das war aufgrund meiner Angststörung zuvor unmöglich. Auch mein Mann war zu der Zeit noch in Ausbildung.
Heute arbeitest du als Angehörigenbegleiterin. Was ist deine Mission?
Ich möchte angehörigen Kindern ein Gesicht geben und ein Gehör verschaffen. Ich habe selbst zwei kleine Kinder. Eine offene, ehrliche und altersgerechte Kommunikation ist für mich zentral. Das mache ich mit meinen Kindern auch. Wenn es mir nicht gut geht, rede ich offen mit ihnen – und scheue mich auch nicht, vor ihnen zu weinen. Das hat mir gefehlt. In unserer Familie wurde die Krankheit stigmatisiert. Man wollte nicht, dass wir darüber sprechen. Sie wurde so konsequent totgeschwiegen, dass ich lange nicht begriff, wo meine Mutter überhaupt war, wenn es wieder zum Aufenthalt in der Klinik kam. Nicht zu wissen, was los war, hat mir Angst gemacht.
Wusste denn auch in der Schule niemand von deiner Situation?
Nein. Ich habe das nicht gegen aussen kommuniziert. Mir selbst ist die Lage zuhause auch nicht so prekär vorgekommen. Es war schlicht meine Realität.
Was hätte dir geholfen?
Dass man offener mit mir kommuniziert. Und dass jemand im Haushalt hilft. Auch ein Angebot wie Home Treatment wäre hilfreich gewesen. Es hätte die Abwesenheiten meiner Mutter vielleicht verhindern können. Dieses ewige Hin und Her zwischen Klinik, Ruhigstellen mit Medikament, Entlassung und wieder Einweisung war hart. Wurde sie aus der Klinik entlassen, gab es keine Betreuung mehr zuhause. Der wöchentliche Besuch beim Psychiater reichte nicht. Eine Familienhilfe wäre überlebenswichtig gewesen.
Du redest offen über deine Geschichte. Was hat dich dazu bewegt?
Es ist ein Thema, das unheimlich viele Menschen betrifft. Und es ist ein Thema, das immer noch totgeschwiegen wird. Ich möchte Jugendliche dazu ermutigen, sich Hilfe zu holen, sobald sie das können. Ich möchte dazu beitragen, dass die Angehörigen nicht selbst zu Betroffenen werden. Das ist der Hauptgrund, weshalb ich die Angehörigen-Weiterbildung gemacht habe.
Wie können Angehörige aus deiner Sicht verhindern, dass sie selber erkranken?
Man muss sich früh genug Hilfe holen, wenn man merkt, dass man überlastet ist. Das muss nicht unbedingt bei einem Psychiater sein, auch der Austausch in einer Selbsthilfegruppe kann gut tun. Man muss sich selbst Sorge tragen, seine Bedürfnisse ernst nehmen und zu sich schauen. Das ist vielleicht einfacher gesagt als getan, vor allem in einer prekären Situation. Aber gerade dann ist es wichtig, Entlastung zu suchen. Das kann auch ein Freund sein, dem man sich anvertraut.
Du bist von zuhause ausgezogen, hast dich abgegrenzt. Das braucht Mut …
Das ist ein Prozess, aber eine gewisse Abgrenzung ist notwendig – nicht einmal zwingendermassen eine räumliche. Das meinte ich mit sich Sorge tragen, seine Ressourcen zu stärken. Man muss sich Inseln schaffen.
Wie ist deine Beziehung zu deiner Mutter heute?
Sehr gut. Unterdessen ist sie stabil und war seit vielen Jahren nicht mehr in der Klinik. Zusammen mit einer Therapeutin hat sie an sich gearbeitet und den richtigen Weg gefunden. Betroffen wird sie immer bleiben, aber sie hat es geschafft, einen Umgang mit der Krankheit zu finden.
Sind auch Sie Angehörige:r oder Vertraute:r einer psychisch erkrankten Person? Wir sind für Sie da. Ob in täglichen Herausforderungen oder in Situationen der Hoffnungslosigkeit versuchen wir, Orientierung zu geben und gemeinsam Wege zu finden. Kontaktieren Sie uns.