Maria Senatore-Thomet ist mit einer psychisch kranken Mutter aufgewachsen. Viel zu früh musste sie viel zu viel Verantwortung übernehmen – vor allem für ihren überforderten Vater. Heute arbeitet sie als Angehörigenbegleiterin und hilft anderen Angehörigen und Vertrauten von psychisch erkrankten Menschen, ihre eigenen Ressourcen zu stärken.
Maria, deine Mutter war krank. Wie hast du deine Kindheit erlebt?
Meine Mama war depressiv mit schizophrenen und manischen Zügen. Von klein auf habe ich die Rolle der Schlichterin und viel Verantwortung übernommen. Man nennt das auch Parentifizierung, was eine Rollenumkehr zwischen Elternteil und Kind bedeutet. Mein Papa hat seine Sorgen immer wieder bei mir platziert, denn er war konstant überfordert. Ich hätte gerne Eltern gehabt, die sich liebevoll um mich kümmern, doch genau das Gegenteil war der Fall. Eine schmerzhafte Realität, die ich lernen musste zu akzeptieren.
Und wer hat dich unterstützt?
Niemand. Dabei hätte ich mir so sehr gewünscht, dass mir jemand erklärt hätte, dass meine Mama krank und mein Papa überfordert war. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, war ich immer angespannt. Ich wusste nie, was mich erwarten würde. Lag meine Mutter wieder auf dem Sofa, was wegen der Medikation oft der Fall war? Oder erwartete mich der Normalzustand, was so viel bedeutete wie: Sie lag zwar nicht auf dem Sofa, war aber sehr schlecht gelaunt. Mir hat nie jemand bei den Hausaufgaben geholfen. Auch durfte ich nie an einen Kindergeburtstag oder meine Freunde zu mir einladen.
Wie alt warst du, als du realisiert hast, dass es bei euch nicht war wie in anderen Familien?
Über die wirklichen Auswirkungen wurde ich mir erst im Erwachsenenalter richtig bewusst. Aber im Kindergartenalter habe ich realisiert, dass es bei uns anders war.
Man geht davon aus, dass in der Schweiz 20 bis 25 Prozent der Kinder und Jugendliche einen Elternteil hat, der unter einer psychischen Störung leidet. Das sind enorme Zahlen. Wie kann man diese Kinder unterstützen
Jede Familie mit einem psychisch kranken Elternteil braucht Unterstützung. Die Kinder brauchen Begleitung. Ich hätte mir im Nachhinein damals so sehr gewünscht, dass eine Art Familienhilfe regelmässig bei uns vorbeigeschaut und mit mir geredet hätte. Bis heute verstehe ich nicht, wie es möglich ist, dass eine Mutter nach einem Klinikaufenthalt zurück in ein Familiensystem entlassen wird, ohne dass sich jemand darum kümmert, was mit den Angehörigen geschieht. Besonders dann, wenn die Mutter mit Psychopharmaka behandelt wird und ein normaler Familienalltag deswegen nicht mehr möglich ist. Genau das ist meine Herzensangelegenheit: Mich einzusetzen, dass betroffene Familien Unterstützung und Kinder Begleitung erhalten. Ohne Hilfe kann der gesunde Elternteil die Situation kaum bewältigen.
« Wenn man sich gut um sich selbst kümmert, kann man sich trotz der schlechten Erfahrungen positiv entwickeln. »
Wie ist es dir gelungen, Kraft für dein Leben zu finden?
Es fängt alles mit einer Entscheidung an. Mit 19 habe ich für mich entschieden, dass mich diese Negativität in meinem Leben nicht weiterhin beeinflussen darf. Ich habe einen Therapeuten gesucht und mich langsam besser gefühlt. Mit 20 bin ich von zuhause weggezogen. Ich habe weiterhin in Therapien an mir gearbeitet und viele Themen reflektiert: hauptsächlich mangelndes Selbstbewusstsein aufgrund der negativen Dinge, die meine Mutter immer zu mir gesagt hat. Ich möchte nun anderen Menschen mit einer ähnlichen Geschichte Mut machen. Wenn man sich gut um sich selbst kümmert, kann man sich trotz der schlechten Erfahrungen positiv entwickeln.
Wie ist deine Beziehung zu deiner Mutter heute?
Durch den Verarbeitungsprozess konnte ich mit meiner Mutter Frieden schliessen. Es ist mir bewusst geworden, dass weder sie noch ich etwas für die Krankheit konnten – und ich habe ihr verziehen. Dieses Vergeben hat eine ganz neue Dynamik in der Beziehung zu ihr bewirkt. Sie ist nicht mehr verbal aggressiv zu mir, sondern dankbar und liebevoll. Das Vergeben ist für mich der Schlüssel zur Heilung.
Du hast die Ausbildung zur Angehörigenbegleiterin abgeschlossen. Wie ist es dazu gekommen?
Als ich von der Ausbildung zur Angehörigenbegleitung erfuhr, ergab plötzlich alles Sinn. Ich habe sie absolviert und kann endlich tun, was mir immer so wichtig war: betroffenen Familien Unterstützung bieten, die sie so dringend benötigen. Es geht um Empowerment und Selbstbestimmung. Angehörige müssen ihre eigenen Ressourcen stärken. Angehörige, die gut unterstützt sind, sind gelassener und kompetenter im Umgang mit psychischen Krankheiten. Das möchte ich in meiner Rolle als Angehörigenbegleiterin vermitteln. Und ich möchte mich dafür einsetzen, dass Kinder bzw. Elternteile in so schwierigen Situationen Unterstützung erhalten.
Angehörigenbegleitung
Maria Senatore-Thomet begleitet Sie gerne. Mehr Informationen zu ihrem Angebot finden Sie hier.