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Michael Hermann, angehöriger Bruder

«Der Mut meiner Eltern, offen darüber zu sprechen, war befreiend»

Als sich sein psychisch erkrankter Bruder das Leben nahm, war Michael Hermann ein junger Erwachsener. Heute ist er der Kopf von SOTOMO, einem der renommiertesten Umfrageinstitute der Schweiz. Er sagt: «Ich bin meiner Familie dankbar, dass wir stets offen über die Erkrankung und den Tod meines Bruders sprechen konnten.»
Maske

Du hast mit Deinem Institut SOTOMO die erste repräsentative Studie zu Angehörigen und Vertrauten von Menschen mit psychischen Erkrankungen durchgeführt. Gibt es Zahlen, die Dich überrascht haben?

Ganz generell finde ich das Ausmass der Betroffenheit bemerkenswert. Berührt hat mich, wie viele Menschen als Kind von einer psychischen Erkrankung in der eigenen Kernfamilie betroffen waren. Die meisten dieser Betroffenen geben an, darunter gelitten zu haben.

Auch Du kennst die Rolle des Angehörigen. Du hattest einen Bruder, der mit psychischen Herausforderungen kämpfte. Was ist Deine Geschichte?

Es gibt in meinem Leben zwei Bezüge zum Thema. Zum einen erlebte ich als Kind, dass mit meiner Grossmutter etwas nicht gut war. Sie war immer etwas schrullig – ich habe jedoch erst nach und nach erfahren, dass sie schizophren war und länger in der Klinik war. Das alles war vor allem für meinen Vater prägend. Im zweiten Fall war ich unmittelbar betroffen. Es handelt sich um das Schicksal meines Bruders, der zwei Jahre älter war als ich.

Was geschah?

Als er im Studium war, fing er an, sich extrem um Ernährungsthemen zu kümmern. Mein Bruder – mit seinem Ehrgeiz und seiner Genauigkeit – machte immer radikalere Diäten. Dadurch wurde er immer dünner. Je dünner er wurde, desto überzeugter wurde er, dass er noch weitersuchen müsste. Wonach – das war nie klar. Für ihn war die Gesellschaft auf einem falschen Weg. Ihn trieb der Gedanke an, sich davon befreien zu müssen. Zugleich fing er in seinem Architekturstudium an, an seinem selbst auferlegten Leistungsdruck zu leiden. Als Familie waren wir damals durch die Gesellschaft noch in keinerlei Weise sensibilisiert für dieses Thema. Der heute gängige Begriff Orthorexie begegnete uns damals nie. Es fehlte uns deshalb auch das Bewusstsein, dass man bei psychischen Problemen etwas Präventives machen müsste, bevor das Ganze schwerwiegende Ausmasse annehmen würde. Wir schauten dem Ganzen überfordert zu. Er wurde so mager, dass er eines Tages plötzlich zusammenbrach. Dann kam er ins Berner Inselspital und wurde dort zwangsernährt. Zugleich wurden erste Diagnosen gestellt – es gab zumindest den Verdacht auf Schizophrenie. Mein Bruder war in einem Tunnel. Er empfand das Ganze als Brechen seines Willens – er litt an der Tatsache, dass es zu Zwangsernährung und -einweisung gekommen war. Irgendwie schaffte er es relativ einfach, im zehnten Stock des Spitals auf einen Balkon zu gelangen – und stürzte sich in den Tod. Für mich unerklärlich, dass die Spitalprofis keine Massnahmen getroffen hatten, diese Möglichkeit zu verhindern.

« Für mich war die Nähe schwierig, da er mich in seinem Wahn missionieren wollte. »

Wie war Dein Verhältnis zu Deinem Bruder?

Als Kinder und Jugendliche standen wir im Konkurrenzverhältnis. Wir hatten ähnliche Interessen, waren beide ehrgeizig. Wir hatten nie ein einfaches Verhältnis. Er war immer noch leistungsorientierter als ich – etwa im Sport oder in der Schule. Er war mir immer eine Nasenspitze voraus. Sein Extremismus rund um die Ernährung distanzierte mich zusätzlich. Sein Selbstmord passierte, als ich junger Erwachsener war. Ich hatte als Angehöriger keine lange Erfahrung – etwa in der Betreuung und Begleitung. Er hatte in dieser extremen Phase der Diäten meine Nähe wieder gesucht. Doch ich fühlte mich unwohl dabei. Für mich war die Nähe schwierig, da er mich in seinem Wahn missionieren wollte. Er war in seiner eigenen Welt gefangen, wollte mich gewissermassen erziehen. So behauptete er beispielsweise vehement, dass die Tatsache, dass ich eine Brille trage, ein Zeichen dafür sei, dass ich an einer Zivilisationskrankheit leide. Ich wollte deshalb die Distanz wahren – ich kam ja eh nicht an ihn heran. Ich war hilflos. Das war Anfang der 90er-Jahre. Für mich sind die Hilflosigkeit, die Sprachlosigkeit und die Unprofessionalität, die wir im Spital erlebten, tief in meiner Erinnerung haften geblieben. Glücklicherweise sind wir heute als Gesellschaft weiter. Wir können derlei Themen zur Sprache bringen, was ohne Frage für alle Beteiligten sehr wichtig ist.

Ich höre heraus, dass das bei der Grossmutter ihr Leiden nicht thematisiert worden ist. Wie war das nach dem Selbstmord Deines Bruders?

Die Geschichte meiner Grossmutter war in unserer Familie nicht total tabuisiert. So war bekannt, dass sie schon in den Psychiatrieklinik Waldau war. Aber es herrschte eine gewisse Sprachlosigkeit. Nach dem Tod meines Bruders war das glücklicherweise anders. Ich habe positiv in Erinnerung, dass nach dem Tod meines Bruders meine Familie gut mit der Situation umgegangen ist. Wir integrierten diese Geschichte in unseren Alltag, sprachen offen darüber und versuchten, für uns etwas daraus zu ziehen. Für mich war das sicherlich einfacher als für meine Eltern. Denn meine Eltern mussten sich mit der ganzen Schuldfrage, die mit einer solchen Tragik einhergeht, auseinandersetzen. Mir gelang es schrittweise, die Stärken wie den Ehrgeiz, die Zielstrebigkeit, die meinen Bruder auszeichneten, positiv in mir zu pflegen und in mir zu akzeptieren und wertzuschätzen. Schön war zu erkennen, dass positive Anteile von ihm in mir weiterleben. Ich konnte so meinen Platz im Leben einnehmen.

Hast Du Unterstützung erfahren?

Mir hat vor allem geholfen, dass wir in der Familie, also meine Eltern, meine Schwester und ich, offen darüber sprechen konnten. Meine Eltern haben sich nach diesem Schlag nicht zurückgezogen. Wie mutig meine Mutter und mein Vater mit dem Tod meines Bruders umgegangen sind, empfand ich als sehr befreiend. Aber bevor mein Bruder starb, in seiner Krankheitsphase, waren wir alle völlig hilflos, überfordert und allein. Es gab kein Konzept, keinen Austausch mit anderen. Es fehlte uns das Wissen, wie wir damit hätten umgehen können. Gut, dass es heute Organisationen wie Stand by You Schweiz gibt, die hier Solidaritätsnetzwerke und Erfahrungsaustausch anbieten.

« Vordergründig ist man offener als früher, aber man steht auch aufgrund der Sozialen Medien in einer permanenten Konkurrenzsituation. »

Angehörige kämpfen mit Diskriminierung, Stigmatisierung und Scham. Du bist ein Fachmann, wenn es um die Meinungen und den Gemütszustand der Menschen in unserem Land geht. Was kann Stand by You Schweiz, was kann unsere Gesellschaft tun, um das Thema «psychische Erkrankungen» von Vorurteilen zu befreien?

Ich finde, wir haben als Gesellschaft bereits einen weiten Weg gemacht. Psychiatrie, psychische Erkrankungen waren früher erstickend unterdrückt und tabuisiert. Man war fast schon ein Sonderling, wenn man darüber gesprochen hat. Auch wenn heute noch vieles nicht gut ist rund um das Thema psychische Erkrankungen – wir sollten nicht unterschätzen, wieviel besser die Situation geworden ist. Wir sind sensibilisierter, nehmen unsere Leiden auch eher wahr – insbesondere die jüngeren Generationen. Und dennoch zeigen Studien: Selbst junge Menschen sagen nicht immer, wenn sie betroffen sind. Aber wohl aus anderen Gründen als früher. Nicht mehr, weil es komplett tabu ist, sondern aus Angst, nicht mehr als leistungsfähig zu gelten. Sie befürchten, in der Karriere Nachteile zu erfahren, wenn eine Erkrankung bekannt wird. Das heisst: Vordergründig ist man offener als früher, aber man steht auch aufgrund der Sozialen Medien in einer permanenten Konkurrenzsituation. Man «performt» immer ein wenig. Es hat also eine Verlagerung gegeben. Einfach gesagt: Die erste Phase, alles unter den Tisch zu kehren, haben wir als Gesellschaft überwunden. Heute haben wir aber die Situation: Selbst, wenn man darüber sprechen könnte, tut man es nicht, weil Nachteile befürchtet werden.

Hast Du Ansätze, wie das verbessert werden könnte?

Zentral ist, dass auf Arbeitgeberseite mehr gemacht wird. Und das durchaus auch aus Eigeninteresse. Wenn nämlich Mitarbeitende psychisch erkranken und ausfallen, dann ist das eine Belastung für die Firmen. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels hat man nicht immer unmittelbar Ersatz. Der Druck nimmt zu. Es kann zu einem Dominoeffekt kommen, dass die, die im Team den Ausfall kompensieren müssen, auch mehr belastet werden. Deshalb sollte es im höchsten Interesse der Arbeitgeber sein, hier vorsorgend, aktiv zu wirken. So, dass frühzeitig derlei Themen angesprochen werden und der Raum da ist, Lösungen zu finden und die Betroffenen gesellschaftlich nicht auszuschliessen.

Stimmt mein Eindruck, dass trotz Wokeness- und Inklusions-Debatten das Thema psychische Erkrankungen nicht im gleichen Tempo wie andere Themen offener wahrgenommen wird?

Es gibt Unterschiede: Wenn es um psychisches Unwohlsein geht, ist die Akzeptanz gestiegen. Zum Teil ist dieser Bereich auch schick geworden. Stichwort: Psychowellness. Sobald es indes um gravierende psychische Erkrankungen geht, sieht die Sache anders aus. Denn psychische Erkrankungen fordern fundamental heraus – eignen sich nicht für eine schöne Oberfläche. Dieser Teil macht den Leuten immer noch Angst. Hier braucht es die gesellschaftliche Bereitschaft, auch dorthin zu gehen, wo es weh tut.

Stand by You Schweiz möchte einen Beitrag leisten, um die Psychiatrie in unserem Land, wirksamer, nachhaltiger und menschlicher zu gestalten. Ist das ein realistisches Ziel?

Natürlich wünsche ich mir das. Es ist eine Ressourcenfrage. Kurzfristig gedacht, ist es effizienter, wenn man jemandem mit Medikamenten wieder zum Funktionieren bringt, statt mit den Herausforderungen umfassend umzugehen. Dabei hätten wir aufgrund unseres Wohlstands mehr Möglichkeiten, etwas zu tun. Es braucht ein Umdenken und Menschen, die sich dazu äussern und sich für Veränderungen einsetzen. Wir sind heute an einem anderen Ort als vielleicht noch in den Fünfziger- und Sechziger-Jahren. Das gibt Hoffnung. Doch wir müssen den Weg noch weitergehen. Es gibt immer einen einfachen Teil eines jeden Weges und den schwierigeren. Wir sind wohl als Gesellschaft auf dem zweiten, schwierigeren Wegstück angelangt.

Hat Dir Deine Erfahrung als Angehöriger für Dein Leben Positives gebracht?

Auf jeden Fall. Beispielsweise der Umgang mit der Tatsache, dass es andere Realitäten gibt als die eigene oder vordergründig normale. An der Oberfläche ist nicht immer das anzutreffen, was den Dingen innewohnt. Wer derlei Erfahrungen gemacht hat, schaut nicht einfach weg. Die Erkrankung meines Bruders hat bei mir einen enormen Reifeprozess ausgelöst und hat meine Wahrnehmung erweitert. Die Frage, was man im Leben will, was sinnvoll ist, was einem schadet, stellte sich mir bereits in frühen Jahren. Dafür bin ich dankbar. Ebenso für meine Familie, die mir ermöglichte, immer darüber zu sprechen, wenn es für mich wichtig war.

Sie sind nicht allein

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