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Nadja Werthmüller, angehörige Tochter

«Plötzlich war da dieses Gefühl, nicht mehr richtig glücklich zu sein»

Nadja Werthmüller teilt in ihrer Geschichte die Herausforderungen ihrer Kindheit mit einer depressiven und alkoholabhängigen Mutter. Sie beschreibt, wie unverarbeitete Kindheitstraumata Jahre später ihre Lebensfreude minderten und wie sie durch Coaching einen Weg aus der Krise und zu einer neuen Berufung fand. Sie möchte mit ihrer Geschichte andere ermutigen, hinzuschauen und sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen.
Maske

Als einziges Kind einer depressiven und alkoholabhängigen Mutter habe ich früh gelernt, mit grossen Belastungen umzugehen. Während andere Kinder unbeschwert spielten, kümmerte ich mich um den Haushalt, regelte die Finanzen, besorgte Essen, Alkohol und Medikamente, begleitete sie zum Arzt oder besprach mit ihm gar allein die Befunde. Das war eine Verantwortung, die weit über meine körperlichen und seelischen Grenzen hinausging. Wenn es ihr gut ging, konnten wir durchaus schöne Momente erleben, wenn es ihr schlecht ging, hat sie auch physische Gewalt angewendet. Da meine Mutter mir drohte und verbot, über unsere Situation zu sprechen, konnte ich mit niemandem über meine grosse Belastung sprechen, obwohl es in unserem Umfeld Menschen gab, die Hilfe anboten.

Als ich 20 Jahre alt war, starb meine Mutter. Damals beschloss ich, nach vorne zu schauen und mich auf meine berufliche Karriere in der Versicherungsbranche zu fokussieren. Mit viel Freude und Engagement arbeitete ich in verschiedenen Führungsfunktionen bei der damaligen Winterthur Versicherung und bei der ABB, wovon ich neun Jahre als Head of Insurance Risk Management weltweit für die Versicherungsbelange des ABB-Konzerns verantwortlich war.

Viele Jahre führte ich mit meinem Mann und unseren beiden Töchtern ein erfülltes Leben. Doch plötzlich war da dieses Gefühl, nicht mehr richtig glücklich und voller Energie zu sein. Lag es an der anspruchsvollen beruflichen Tätigkeit, an den Herausforderungen als Mutter kleiner Kinder, an der Kombination von beidem oder einfach daran, dass ich älter wurde? Ich hatte doch immer alles im Griff und habe in meinen Leistungen nie nachgelassen. Zu sagen, dass es mir nicht mehr richtig gut geht, oder gar fremde Hilfe anzunehmen, wertete ich als Zeichen von Schwäche.

« Ich arbeitete meine Kindheitstraumata
im Alter von 44 Jahren auf. »

Eines Tages begriff ich glücklicherweise, dass ich mein Problem nicht alleine lösen konnte und entschied mich für ein Coaching im Bereich Persönlichkeitsentwicklung. Durch das Coaching wurde mir bewusst, dass mein ständiges Streben nach Perfektion stark durch meine nie verarbeiteten Kindheitserlebnisse geprägt war. Es war auch nicht erstaunlich, dass ich meine berufliche Herausforderung als Risk Manager in der Versicherungsbranche fand. Hatte ich doch von klein auf gelernt, mit verschiedenen Risiken umzugehen.

Meine Konditionierungen aus der Kindheit waren damals notwendig, um zu überleben. Als Erwachsener wurden sie mir immer mehr zur Last. Ich fand aber den Weg aus dem Hamsterrad, arbeitete meine Kindheitstraumata im Alter von 44 Jahren auf und konnte nicht dienliche Verhaltensmuster ablegen, um zu meiner Lebensfreude und gewohnten Energie zurückzufinden.

Im Jahr 2021 habe ich mich entschieden, einen neuen beruflichen Weg einzuschlagen, um mit meiner reichen Lebens- und Führungserfahrung sowie meiner Ausbildung zum Holistischen Resilienz Coach andere Menschen bei ihren persönlichen oder beruflichen Herausforderungen zu unterstützen und zu begleiten.

Ich teile meine Geschichte, um zu zeigen, dass es sich lohnt, den Mut zu haben, hinzuschauen und sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen. Ich hätte nie gedacht, dass meine verminderte Lebensfreude und Energie mit meinen Kindheitserfahrungen zusammenhängt und bin sehr dankbar, dass ich meinen Stolz überwunden und fremde Hilfe in Anspruch genommen habe.

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