Ihre Mutter litt jahrelang phasenweise an einer schweren Depression. Für Silvia Andres und ihre Geschwister eine kräftezehrende Situation, obwohl sie schon erwachsen waren. Geholfen haben ein grosses Netzwerk und eine konsequente Strukturierung der Tage der kranken Mutter.
Silvia, wie hast du die Zeit der Krankheit deiner Mutter erlebt?
Meiner Mutter ging es nach ihrer Pensionierung nie wirklich gut und sie litt immer wieder an Depressionen. Im 2017 musste sie wiederum in die Klinik. Zwei Tage später ist mein Vater unerwartet gestorben. Ihr Ehemann, mit dem sie 52 Jahre lang verheiratet war. Für mich und meine Geschwister begann ein jahrelanger Leidensweg. Wir fühlten uns oft sehr allein, am Ende unserer Kräfte und wussten nicht, wo wir Hilfe holen konnten. Im Jahr 2022 ist meine Mutter für uns alle unerwartet verstorben.
Du warst schon erwachsen, als es deiner Mutter so schlecht ging. Was hast du unternommen, um ihr zu helfen?
Das war genau das Ohnmächtige, dass ich und meine Geschwister nicht wussten, ob wir das Richtige taten, ob wir unserer Mutter wirklich halfen. Als mein Vater unerwartet starb, war das für meine Mutter ein Erdbeben, das ihr komplett die Lebensfreude raubte. Wir wollten sie motivieren, doch weder Kinder noch Enkelkinder vermochten ihr die Freude zurückzugeben. Wir haben versucht, ihren Tag mit Aktivitäten, Anrufen oder Besuchen zu strukturieren. Als ich merkte, dass alle Bemühungen unsererseits oft nicht viel brachten, war ich der Verzweiflung nah. Per Zufall habe ich von der Angehörigenbegleitung in der Klinik erfahren, an die man sich auch wenden konnte, wenn kein Angehöriger stationär war. Ich habe mich gemeldet und ein wunderbares Telefonat mit einer Frau erlebt. Sie wusste genau, wovon ich sprach. Sie bestätigte mich, indem sie mich bestärkte und mir versicherte, dass ich alles richtig mache. Das hat mich entlastet und ein bisschen befreit.
« «Dass die Geschwister meiner Mutter und viele wunderbare Menschen meine Mutter so liebevoll begleitet haben und immer für sie da waren, war ein grosses Glück, denn sie haben mir ermöglicht, von Zeit zu Zeit durchzuatmen.» »
Was hat dir in dieser schweren Zeit als Angehörige am meisten geholfen?
Während der jahrelangen Krankheit meiner Mutter wurde mir sehr wohl bewusst, dass ich gut zu meiner psychischen Gesundheit schauen muss. Mein Ehemann hat mich unterstützt und mir immer wieder zugehört. Meine Meditationslehrerin hat mir enorm geholfen. Bei ihr habe ich gelernt, nein zu sagen. Sie hat mir beigebracht, dass es in Ordnung ist, nicht zu meiner Mutter zu gehen, wenn es mir nicht gut ging oder ich auch mal wütend war. Aber auch meine Geschwister haben mir geholfen. Wir haben uns gegenseitig Kraft gegeben. Das gesamte Netzwerk aus Familie, Geschwistern und Nachbarn wurde zur Stütze. Aber auch die umfassende fachliche Unterstützung, die meine Mutter erhielt, als sie die Klinik verlassen konnte, war äusserst hilfreich. Die Verantwortung für die Behandlung der psychischen Krankheit konnte ich abgeben – an die Psychiaterin, Hausärztin, psychiatrische Spitex und Physiotherapeuten. Das hat mich entlastet. Dass die Geschwister meiner Mutter und viele wunderbare Menschen meine Mutter so liebevoll begleitet haben und immer für sie da waren, war ein grosses Glück. Sie haben es mir ermöglicht, von Zeit zu Zeit durchzuatmen.
Was hast du vermisst?
Erst nachträglich habe ich gemerkt, dass mich die Fachleute nie gefragt haben, wie es mir eigentlich ging. Ab und zu ein «wie geht es denn Ihnen Frau Andres» hätte mir gut getan. Ich habe auch nie von einer Fachperson einen Hinweis zu Institutionen erhalten, die mich hätten unterstützen können. Deshalb kam ich gar nie auf die Idee, mich an jemanden zu wenden. Dabei ist der Austausch mit anderen Angehörigen elementar. Freunde verstehen einen eher weniger, wenn sie nicht etwas Ähnliches erlebt haben.
Du engagierst dich selber für Angehörige und Vertraute von psychisch erkrankten Menschen. Wie ist es dazu gekommen?
Im Jahre 2022 bin ich durch Zufall auf die Ausbildung zur «Angehörigenbegleiter*in für Angehörige» gestossen und war von der Idee begeistert. Eine solche Begleitung hätte ich mir von Herzen für meine Geschwister und mich gewünscht. Durch sie habe ich die Arbeit von Stand by You Schweiz und auch der VASK (Vereine Angehöriger psychischer Erkrankter) kennen gelernt. Heute engagiere ich mich für Stand by You im Bereich Empowerment. Ich möchte zeigen, dass es trotz Ohnmacht möglich ist, Wege zu finden. Dass wir nicht allein sind und ein gutes Netzwerk wichtig ist. Ich habe selber erlebt, wie ein kurzes Telefonat entlastend sein kann und engagiere mich bei der Nummer 0800 840 400 von Angehörigen und Vertrauten von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Zudem ist es mir ein grosses Anliegen, die Fachleute zu sensibilisieren. Sie müssen sich bewusst sein, wie zentral die Arbeit der Angehörigen ist und dass es Angebote gibt, die uns in dieser wichtigen Rolle unterstützen.
Sie sind nicht allein
Sind auch Sie Angehörige:r oder Vertraute:r einer psychisch erkrankten Person? Wir sind für Sie da. Ob in täglichen Herausforderungen oder in Situationen der Hoffnungslosigkeit versuchen wir, Orientierung zu geben und gemeinsam Wege zu finden. Kontaktieren Sie uns.