«Die Probleme der Angehörigen sind in allen Ländern die gleichen»
Urs Würsch ist nicht nur Vize-Präsident von Stand by You Schweiz. Er engagiert sich als Präsident von EUFAMI auch auf europäischer Ebene für die Anliegen der Angehörigen und Vertrauten von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Seine Angehörigengeschichte nahm ihren Anfang, als sein Sohn vor zwanzig Jahren an Schizophrenie erkrankte. In einem Interview erklärt er, wo die Schwerpunkte der Angehörigenarbeit auf europäischer Ebene liegen.
Was ist Deine Motivation, Dich für EUFAMI, die Europäische Vereinigung der Angehörigen von Menschen mit psychischen Erkrankungen, zu engagieren?
Meine persönliche Motivation, mich bei EUFAMI zu engagieren, entstand aus meiner Geschichte. Mein Sohn erkrankte mit 20 an Schizophrenie. Das zu verstehen und zu akzeptieren war der erste Schritt. Ich habe dann angefangen, mich bei der VASK Aargau zu engagieren. Nach einigen Jahren bin ich bei der VASK Schweiz, der heutigen Dachorganisation Stand by You Schweiz, in den Vorstand gewählt worden. Damals fiel mir auf, dass fast jede regionale VASK eine eigene Struktur hatte, die Zusammenarbeit innerhalb der Schweiz war ungenügend und nicht koordiniert. Das gleiche gilt jetzt immer noch für Europa. Auch hier hat jedes Land die gleichen Probleme und die Koordination ist mangelhaft. Bei EUFAMI mitzuhelfen, ermöglicht es, die Anliegen der Angehörigen besser in das Bewusstsein der Bevölkerung einzubringen. Die Probleme, die Angehörige beschäftigen, sind überall die gleichen, unabhängig in welchem Land wir leben. Ich bin der Überzeugung, dass wir gemeinsam mehr erreichen können.
Was sind die Schwerpunkte von EUFAMI?
EUFAMI wurde 1992 gegründet und umfasst mittlerweile 41 Mitglieder-Organisationen in 28 europäischen Ländern. Wir vermuten, dass wir mehr als 25 Millionen Familien repräsentieren. Es ist unser Ziel, Angehörige von Menschen mit psychischen Einschränkungen zu unterstützen, so dass deren Rechte und Interessen vertreten werden. Angehörige wie Betroffene sollen das Recht haben, sich in ihrem Umfeld so zu bewegen, dass sie ihre sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rechte in Ihrem Umfeld ohne Ausgrenzung und Diskriminierung wahrnehmen können.
Wie setzt Ihr das um?
Da wäre Prospect zu nennen, das EUFAMI-Trainingsprogramm. Es hilft Angehörigen, besser mit Ihrer Situation umzugehen und zu lernen, wie sie sich in ihrem Alltag gut zurechtfinden können. Wir unternehmen auf Europäischer Ebene grosse Anstrengungen, um die Stigmatisierung zu bekämpfen und die politischen Institutionen auf die Situation, die Angehörige erleben, aufmerksam zu machen. Wir pflegen zudem einen regen Austausch mit EPA, (European Psychiatric Association) , einer Organisation, die die Psychiater vereinigt, und in deren Vorstand wir einen Sitz einnehmen dürfen. Wir können somit auch hier an prominenter Stelle unsere Anliegen einbringen. Ebenso sind wir mit GAMIAN verbunden, diese Organisation vertritt die Betroffenen und ihre Anliegen.
Was sind die grössten Herausforderungen für Angehörige europaweit?
Die grössten Herausforderungen sind europaweit fast in allen Ländern die gleichen. Natürlich gibt es ein Ost- West Gefälle. Die Versorgungsmöglichkeiten sind im Westen sicher besser, der Familienzusammenhalt ist jedoch im Süden meist besser. Überall werden Angehörige zu wenig ernst genommen und sie sind in dem Genesungsprozess nicht genügend eingebunden. Die Zusammenarbeit zwischen der medizinischen Fachwelt und den Angehörigen ist kaum existent. Angehörige leiden unter Stigmatisierung. Traumatisch sind die Folgen von Zwangseinweisungen. Angehörige erhalten keine oder nur ungenügende Informationen. Allzu oft werden sie bei Austritten aus Kliniken ohne genügend Unterstützung mit den Betroffenen allein gelassen. Vieles passiert unter dem Deckmantel des Arztgeheimnisses.
Wie hat sich die Psychiatrie in den letzten 50 Jahren entwickelt?
Die Entwicklung in der Psychiatrie hat sich sicher verbessert, aber es gibt aber noch sehr grossen Handlungsspielraum. Es fehlt in allen Ländern an Fachpersonal, in der Medizin und in der Betreuung. Hometreatment ist bekannt, wird aber zu wenig eingesetzt. Die politische Unterstützung ist kaum vorhanden. Diagnosen in der Psychiatrie sind schwierig und fast in jedem Fall unterschiedlich zu bewerten. Heilungsprozesse können nicht verallgemeinert werden, man versucht aber auch hier aus Kostengründen, Krankheiten in Systeme zu zwingen. Die notwendige Versorgung wird dann oft zu rasch abgebrochen.
Wie steht die Angehörigenbewegung in der Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern da?
Die Angehörigenbewegung in der Schweiz leidet unter ähnlichen Problemen wie in den meisten Europäischen Ländern. Ich habe diese vorher genannt. Gut, dass wir mit Stand by You Schweiz Veränderungen anstossen und mitgestalten wollen.
Gibt es Länder in denen mit den Angehörigen und Vertrauenspersonen von Menschen mit psychischen Erkrankungen vorbildhaft umgegangen wir? Was machen diese vorbildhaft?
Es ist erwiesen, dass Länder aus der südlichen Welt, vor allem Italien und Spanien, besser mit Angehörigen umgehen. Ob dies auch die Zusammenarbeit mit der Medizin betrifft, kann ich nicht beurteilen. Es scheint, dass das soziale Gefüge in südlichen Ländern besser funktioniert. Es kommt so beispielsweise in diesen Ländern zu weniger Zwangseinweisungen. Leider belegt die Schweiz hier nur einen Platz im Mittelfeld. Als vorbildhaft erachte ich vor allem Österreich, was die Zusammenarbeit zwischen der medizinischen Fachwelt und den Angehörigenorganisationen anbetrifft. Hier findet ein reger Austausch auf Augenhöhe statt.
Was sind Deine grössten Anliegen als Angehöriger?
Als Angehöriger ist es mir ein grosses Anliegen, dass die Zusammenarbeit zwischen dem medizinischen Fachpersonal (Ärzte, Pflegefachleute) und den Angehörigen verbessert wird. Angehörige sind auch Profis, nämlich Expertinnen und Experten aus Erfahrung. Natürlich müssen diese geschult sein, um die Anliegen im Sinne der Betroffenen richtig wahrnehmen zu können. Sich aber hinter dem «Arztgeheimnis zu verstecken» – wie das die Fachwelt oft tut – dient der Sache nicht. Die Betroffenen sind nicht «geheilt», wenn sie aus der Klinik entlassen werden. Oft ist er dann sich selbst überlassen und die Angehörigen kümmern sich wieder um sie, weil das System nicht greift. Das Verständnis für Menschen mit Psychischen Beeinträchtigungen sollte auf breiter Ebene verbessert werden. Diese Menschen haben eine Krankheit wie jede andere auch. Damit diese Menschen und deren Angehörige nicht mehr stigmatisiert werden, braucht es in der Gesellschaft ein besseres Verständnis davon, was eine psychische Erkrankung bedeutet.