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Margrith Janggen, angehörige Ehefrau

«Wut und Ohnmacht in Kraft umwandeln»

Vor fast 50 Jahren erkrankte Margrith Janggens Mann an Schizophrenie. Wie sehr hätte sich die vierfache Mutter damals Hilfe für Angehörige gewünscht. Doch es gab weder Anlaufstelle noch Informationen. Heute unterstützt sie Angehörige: als Präsidentin der VASK Graubünden. Im Bericht erzählt sie ihre Geschichte.
Maske

Als bei meinem Mann die Krankheit Schizophrenie ausbrach, waren wir bereits zwölf Jahre verheiratet, hatten vier Kinder und führten einen Bauernhof. Zuvor war mein Mann als Landwirt ein Pionier gewesen und hat sich auch vehement für das Erhalten des Kulturlandes eingesetzt. Mit 38 begann er, sich zu verändern: Er äusserte merkwürdige Ideen, die ich nicht mehr mittragen konnte. Es wurde immer offensichtlicher, dass etwas nicht stimmte. Oft hatte er das Gefühl, er werde verfolgt und abgehört. Meine Versuche, dies zu relativieren, kamen nicht an. Eines Morgens im Winter, er hatte die ganze Nacht auf der Alp verbracht, kehrte er verwirrt nach Hause zurück. Er wollte sofort das Vieh rauslassen und ins Dorf einmarschieren, um zu demonstrieren und die Welt zu verbessern. Alleine gelang es mir nicht, ihn davon abzuhalten, so ausser sich war er. Ich rief einen Freund und den Dorfarzt um Hilfe, doch auch sie konnten nichts erreichen. Schliesslich wurde mein Mann von der Polizei in Handschellen abgeführt – ein Bild, das ich nie vergessen werde. Es war für mich das erste Mal, dass ich mit einer psychischen Erkrankung konfrontiert wurde – und es war unvorstellbar schlimm. Auch für die Kinder. Für uns alle begann ein mühsamer Weg.

Ein schweres Leben
Der Hof war unsere Existenz. Nach langem Überlegen entschloss ich mich, die Kinder in ihrer gewohnten Umgebung aufwachsen zu lassen und zusammen mit ihnen den Betrieb weiterzuführen. Es folgten schwierige Jahre, in denen mein Mann immer wieder in der Klinik war. Doch während diesen Aufenthalten tat er nichts anderes, als darauf zu warten, wieder entlassen zu werden. Psychotherapie empfahl man damals Menschen mit Schizophrenie nicht. Man stellte die Patienten mit Medikamenten ruhig. Verständlich, dass er immer wieder den Wunsch verspürte, die Psychopharmaka abzusetzen. So hat sich die Krankheit nach Jahren chronifiziert. Am Leben der Kinder konnte mein Mann leider nur selten teilhaben. Er war manchmal wie versteinert, mit sich selbst beschäftigt. Für ihn und die ganze Familie war es ein schweres Leben. Die Ohnmacht war gerade in der ersten Zeit gross. Ich litt unter enormen Schuldgefühlen, die von den Ärzten noch geschürt wurden. Als Angehörige war ich damals in der Klinik kaum erwünscht. Aus Hilflosigkeit und Betroffenheit mieden uns viele Leute in unserem Dorf, und mir fehlte die Kraft, um auf sie zuzugehen. Während zehn Jahren fühlte ich mich einsam und allein gelassen. Doch mit der Zeit habe ich gelernt, mit meinem Schicksal zu leben. Kraft gaben mir der Glaube, die Familie, die wenigen Freunde, die blieben. Und auch die Musik. Ich spielte in einem Ensemble Querflöte und singe bis heute im Chor. Das Gute am Musizieren ist, dass man sich konzentrieren muss. Man kann nicht in einem Ensemble spielen und gedanklich woanders sein. Ich bin dankbar, dass ich immer wieder Kraft fand, meine Aufgaben im Haus und auf dem Hof zu meistern. Wir waren ein zusammengeschweisstes Team. Die letzten 20 Jahre lebte mein Mann bei uns zuhause und konnte tagsüber in einem geschützten Arbeitsplatz arbeiten. 2009 verstarb er allzu früh im Alter von 71 Jahren.

Zusammen stark sein
Für Angehörige gab es damals kein Angebot, Informationen waren kaum erhältlich. Beim Beobachter habe ich irgendwann einen Flyer bestellt und endlich mehr über die Krankheit Schizophrenie erfahren, als was im Lexikon stand. Nach langen zehn Jahren konnte ich mich zum ersten Mal mit einer Angehörigen austauschen. Auch ihr Mann war von der Krankheit betroffen. Wir machten ab und erzählten uns unsere Geschichte. Es fühlte sich an wie Weihnachten. Das Treffen gab uns beiden so viel Mut. Mir wurde klar, dass wir nur gemeinsam stark sind. Als ich von einem Treffen für Angehörige von psychisch Erkrankten in Chur erfuhr, nahm ich hin und wieder daran teil. Nach einiger Zeit kam der Gründungsmoment der VASK Graubünden (Vereinigung der Angehörigen von Schizophrenie- und Psychisch-Kranken). Ich wurde zur Präsidentin gewählt und bin es nach über 30 Jahren immer noch. Wir haben hart gearbeitet. Eines unserer Anliegen hat sich bis heute nicht geändert: Wir Angehörigen möchten von den Fachleuten angehört und ernst genommen werden.

Die Wut in Kraft umwandeln
Die Erkrankung meines Mannes sehe ich nicht nur negativ. Sie hat mein Leben auch bereichert. In all den Jahren habe ich viele Menschen kennengelernt, denen ein ähnliches Schicksal widerfahren ist. Daraus ist eine Art Gemeinschaft entstanden. Meine anfängliche Wut hat sich in Kraft umgewandelt. Diesen Prozess muss jeder Angehörige durchmachen. Wir tragen die Erkrankung mit, aber wir müssen lernen, sie einzuordnen. Auch wir haben nur ein Leben. Wenn ein solcher Schicksalsschlag eine Familie überrollt, ist es, wie wenn ein Wildbach alles mitreisst. Man steht unten im Schlamm und sieht sich die Verwüstung an. Doch als erstes muss man schauen, wie man wieder aus dem Schlamm kommt. Manchmal schafft man das nicht allein, dann braucht man Hilfe. Wenn ich heute Angehörige unterstütze, überlege ich mir immer, wie es für mich war, als ich am Anfang des neuen Weges stand. Man darf die Hoffnung nie verlieren und muss die kleinen Momente geniessen. Auch Reden hilft. Und man muss sich eingestehen, dass man Fehler macht. Da fällt mir eine schöne Begegnung ein: Ich war am Pflügen eines Ackers, als mir ein pensionierter Bauer entgegenkam. Ich sagte zu ihm: «Ich weiss, es ist nicht fachgerecht, was ich da mache.» Darauf entgegnete er: «Aber du pflügst.» Diese drei Worte haben mich durch all die schwierigen Jahre begleitet und mir Kraft gegeben. Ich konnte sie auf mein Leben übertragen: Ich habe nicht immer richtig gehandelt, doch ich habe meinen Mann begleitet und so gut ich es vermochte für die Kinder gesorgt. All die Jahre mit der Hoffnung, dass mir die nötige Kraft dazu immer wieder neu geschenkt wird.

Sie sind nicht allein

Sind auch Sie Angehörige:r oder Vertraute:r einer psychisch erkrankten Person? Wir sind für Sie da. Ob in täglichen Herausforderungen oder in Situationen der Hoffnungslosigkeit versuchen wir, Orientierung zu geben und gemeinsam Wege zu finden. Kontaktieren Sie uns.